Radreise nach Marokko vom 15.4. bis 6.5.1997

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Ein Bericht von Meike                       

Die Turbinen des Flugzeuges werden gestartet. Doch wo ist Thomas, unser vierter Mann?

Beinahe hätte unsere Reise zu Dritt begonnen, wären da nicht, 5 Minuten vor Abflug, plötzlich noch vier rote Fahrradtaschen ins Flugzeug geladen worden und Thomas etwas atemlos zugestiegen.

So, nun kann der Traum Wirklichkeit werden. Ich lehne mich auf dem Sitz zurück und denke daran, wie alles begann: .. auf dem Dach des Café Central in Marrakech beobachten wir nach einer dreiwöchigen Traumradtour das Treiben auf dem Djemna el  Fna - Geschichtenerzähler und Gaukler wetteifern mit Verkäufern um die Gunst des Publikums. Der faszinierende Orient, der unverständliche Orient auf diesem Platz vereint - er hat uns in seinen Bann gezogen und läßt uns nicht mehr los. Der Blick schweift in die andere Richtung - schneebedeckt grüßen die Gipfel des Hohen Atlas kühl die brodelnde Stadt Marrakech. An diesem Abend haben wir es uns  versprochen: „Irgendwann fahren wir nach Imilchil.“- ins Herz des Hohen Atlas. Seither hängt dieser Leitspruch bei uns in der Küche und soll erst jetzt, 2 Jahre später, umgesetzt werden. Mit von der Partie sind außer Jan und mir noch Thomas, den wir auf unserer letzten Marokkoreise kennengelernt haben und unser gemeinsamer Freund Joe.

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„Bitte  schnallen Sie sich an und stellen Sie das Rauchen ein, wir werden in Kürze in Agadir landen.“ Nur vier Stunden sind wir von Hamburg entfernt und steigen aus dem Flugzeug in eine andere Welt. Die Luft schlägt uns in diesem April sommerlich warm entgegen, erfüllt von würzigen Gerüchen und fremden Stimmen, alles irgendwie vertraut und doch wieder neu. Die Formalitäten sind schnell erledigt, die Räder unversehrt.

Der Flughafen liegt etwa 30 km südwestlich von Agadir entfernt. Frohen Mutes radeln wir in der Mittagshitze auf der wohl befahrensten Straße Marokkos vom Flughafen nach Agadir, um dort eine Fahrgelegenheit ins Inland zu bekommen. Diese Stadt lädt uns nicht zum Verweilen ein. Das Wort Agadir bedeutet eigentlich (Getreide-) Speicher. Das ursprüngliche Agadir ist nach einem Erdbeben 1960 völlig zerstört worden. Die heutige Stadt ist modern und das größte Touristenzentrum Marokkos mit vielen Hotelanlagen. Der Ort zieht die Europäer scharenweise wegen des kilometerlangen Sandstrandes und des milden Seeklimas an. Wir wollen jedoch nur dorthin, um eine Fahrgelegenheit nach Taliouine zu bekommen.

Doch nun erinnern wir uns wieder vage, daß die Uhren in Afrika, auch im modernen Agadir, anders ticken als in Hamburg. Der Bus, den wir nehmen wollten, ist bereits ausgebucht und eine Fahrradmitnahme sei erst in 2 Tagen möglich. Auch die Taxifahrer am zentralen Taxistand sind nicht spontan begeistert, uns ihre Fahrdienste anzubieten. Also heißt es: abwarten und Tee trinken, den berühmt berüchtigten Whisky Berber, Minztee mit viel Zucker, der uns aus einer silbernen Kanne in einem meterhohen Strahl gekonnt ins Teeglas gegossen wird, dann wird sich schon was finden - und tatsächlich, ein Taxifahrer kommt auf uns zu, wir verhandeln einen Preis und kurze Zeit später werden wir mitsamt unserer Räder mit 2 Taxis durch die in der Abendsonne strahlende Sousseebene nach Taliouine gefahren.

Aber Marokko wäre nicht Marokko, wäre diese Episode nun vorbei. Im Dunkeln, erschöpft von diesem langen Tag, erreichen wir Taliouine, wollen zahlen, was verhandelt war und zügig zu Bett gehen.  Doch so einfach ist das nicht: wir dürfen die Räder nicht vom Autodach nehmen und unser Gepäck aus dem Kofferraum holen, weil der verhandelte Preis angeblich für ein Taxi und nicht für beide sei, sprich wir sollten doppelt so viel zahlen, wie vereinbart. In diesem Zwist gehen Taxifahrer und Mitfahrer bis zur örtlichen Polizei, die nur herzhaft lacht und uns wieder allein läßt. Wir treffen uns dann mit dem Preis in der Mitte, damit Frieden ist, wir unser Gepäck bekommen und uns endlich von unseren Chauffeuren trennen können. Auf dem Campingplatz lernen wir dann wieder die bekanntere Seite Marokkos kennen: die der Gastfreundschaft. Obwohl es schon auf Mitternacht zugeht und der im Reiseführer eingetragene Campingplatz ein Hotel ist, dürfen wir unser Zelt dort im Garten aufstellen und  bekommen Tee, Brot und Orangen angeboten. Am nächsten Tag sehen wir erst, wie schön die Gegend ist, in die wir bei dieser Nacht- und Nebelaktion gekommen sind. Unser Zelt steht in einem paradiesischen Garten, der von einer Mauer umgeben ist, von der aus man einen herrlichen Blick auf saftig grüne Wiesen  umrahmt von hohen Bergen im Morgenlicht werfen kann. Wir sind ca. 200 km von Agadir entfernt im Safranland. Hier wächst die Pflanze, deren teure Fäden, wie im bekannten Kinderlied, unseren Kuchen gel machen.

Man mag sich fragen, was die vier Radler per Taxi im Safranland suchen, wo der Traum doch Imilchil im Hohen Atlas ist? Ganz einfach: wir müssen uns erst einmal einfahren und als Gruppe  zusammenraufen, ehe es ernst wird, denn Imilchil bedeutet: tagelang nur ruppige Piste ohne berechenbare Versorgungsmöglichkeiten. Zum Einstimmen haben wir uns eine abwechslungsreiche Strecke ausgesucht: wir wollen immer ostwärts bis zum Erg Chebbi, dem größten Sanddünengebiet Marokkos, radeln. Für diese knapp 500 km lange Strecke, die zu einem Teil aus Pisten besteht, haben wir eine gute Woche Zeit eingeplant.

Von einem  Café Nous-Nous, bestehend zur Hälfte aus Milch und zur Hälfte aus Nescafé, gestärkt, radeln wir den ersten Tag hinein ins Abenteuer. Die Natur meint es nicht gut mit uns, denn es geht auf rauhem, gewöhnungsbedürftigem Asphalt bei Gegenwind und brennender Sonne stetig bergan. Wir müssen uns nach dem langen deutschen Winter erst wieder an das Radeln gewöhnen zumal mit schwerem Gepäck, denn immerhin haben wir Verpflegung aus Trockennahrung für die gesamte Zeit dabei,  um unabhängig von Versorgungspunkten zu sein und um Durchfallkrankheiten zu umgehen. Unsere Haut zeigt schon nach kurzer Zeit trotz Sonnenschutzfaktor 20 erste Rötungen auf. Also schützen wir jeden Zentimeter Haut mit Kopfbedeckung, langärmliger Kleidung, langen Hosen und  Handschuhen. Jan hat es an der rechten Wade erwischt. Zur allgemeinen Erheiterung  wickelt er sein Sitzkissen als Sonnenschutz über die versengte Haut. Auch Joes Ohr glüht interessant in der Nachmittagssonne.

SchiebepassagGleich zu Beginn der Piste, die nach Agdz abzweigt, werden wir von einem Marokkaner angesprochen, dem der Reifen geplatzt ist.  Wir helfen gern  und fragen uns, ob dies ein Zeichen sein soll, unseren ersten Pistenabschnitt vorsichtig anzugehen. Gespannt, was uns erwartet, fahren wir weiter, schlucken immer, wenn uns vollgepackte Fahrzeuge entgegenkommen oder überholen, jede Menge Staub auf der holprigen Strecke. Bis wir Agdz erreichen, haben wir zwar keine Plattfüße zu vermelden, doch ist Joe eine Vorderradtasche ausgerissen , die wir mit Bändern an seinem Lowrider fixieren müssen. Diese Konstruktion soll noch die gesamte Reise halten, Inch Allah!

Der Grund für den regen Autoverkehr auf der Piste ist das Aid El Kebir, das Große Hammelfest .

In der gesamten islamischen Welt  ist das Ait El Kebir  wie bei uns Weihnachten , Ostern und Pfingsten zusammen. Auf den Straßen und in den Gassen begegnen wir festlich gekleideten nach schwerem Parfum duftenden Menschen, die  wie bunte Farbtupfen in archaischer Kulisse umhertreiben. Für mehrere Tage steht das Öffentliche Leben still. Familien treffen sich und feiern das Fest der Feste, für das jeder, der es sich leisten kann, einen Hammel schlachtet. Dieser Brauch soll an die Opferung Isaaks durch Abraham erinnern.

Wir haben uns auf unsere Weise vorbereitet, indem wir bei einem Bäcker 25 Brote bestellen, die wir selbst aus dem Ofen ziehen dürfen. Auch ansonsten  haben wir gehamstert, was das Zeug hält. Gut eingedeckt richten wir uns auf dem örtlichen Campingplatz ein. Dieser gehört der Berberfamilie vom Stamm der Ait el Caid. Hassan, der zusammen mit seinem Bruder den Campingplatz betreibt, erzählt uns , daß  sein Familienclan auch die Kasbah Tamnougalte besitzt , die im Film „ Der Himmel über der Wüste“ als Kulisse diente. Entsprechend hat Agdz seit den Filmarbeiten einen touristischen Boom erlebt.  In früherer Zeit ist der Ort das Tor zu Schwarzafrika gewesen ist, wovon noch heute die dunkelhäutige Bevölkerung zeugt.  Normalerweise kann man die Kasbah (Festungsburg) besichtigen, doch da sich die ganze Familie dort zum Großen Hammelfest trifft, bleibt uns leider der Zutritt verschlossen. Im Draata

Mit dem Brot aus Agdz sollte  Joe noch auf der Weiterfahrt seine Bekanntschaft machen. Marokkanisches Brot ist frisch total lecker, wird jedoch schnell zäh. Als er drei Tage altes Brot aufschneiden will, rutscht er mit seinem Messer ab und schneidet sich mitten in den Daumen - und fällt in Ohnmacht. Jan und Thomas sind glücklicherweise schnell zur Stelle und versorgen ihn, indem sie die Beine hochstellen und den Daumen verbinden. Die umherstehenden Marokkaner haben diese Szene nicht bemerkt oder einfach ignoriert. Gut zu wissen, für den Ernstfall...

Nachdem Joe wieder hergestellt ist, geht es weiter. Ein neues Abenteuer erwartet uns: ein Sandsturm. Sand überall -  in der Luft, in der Kleidung,  in den Haaren, in den Ohren, in den Nasenlöchern und peitscht jeden Millimeter nackter Haut. Davon einmal abgesehen ist das für uns ein optisches Erlebnis erster Güte: wie Nebelschwaden fegt der Sand über die Landschaft und schleift alles glatt. Die Natur will sich heute nicht mehr beruhigen. Im Sturm bauen wir die Zelte auf, was sich als schwierig erweist und nachts bekommen wir kein Auge zu, weil der Wind lautstark an der Zeltplane zerrt. Auch am kommenden Tag ebbt der Wind nicht ab. Wir kämpfen uns erst bei Gegenwind voran und drehen dann in den Wind, was die Geschwindigkeit von 7 km/h auf 35 km/h ansteigen läßt. Nach einem längeren Ritt bei Rückenwind  suchen wir einen geeigneten Rastplatz. Ein Fossilienladen bietet Windschutz. Wir kauern an der Mauer als der Eigentümer der Bude kommt, ein wettergegerbter sehniger Mann unbestimmten Alters. Er grüßt nicht, kommt aber kurze Zeit später zu uns -mit einer Kanne Whisky Marocain und drei Gläsern. Er läßt den Tee bei uns stehen und geht wieder. Die marokkanische Gastfreundschaft zeigt sich immer wieder in solch stillen Gesten. Nach dem Tee gehen wir zu ihm und schauen ihm bei seiner Arbeit zu. Mit einem einfachen Nagel legt er eingeschlossene Fossilien filigran aus dem Stein frei und erweckt sie damit praktisch wieder zum Leben. Eines dieser Kunstwerke wechselt den Besitzer für einen geringen Preis und als wir aufbrechen, schenkt er uns noch ein zweites Fossil. 

QueddurchfahrtEs gibt in Marokko nicht nur Sand und Trockenheit sondern auch unerwartet Oueds, temporär gefüllte Flußläufe, die sich von weither auffüllen und in trockensten Gegenden noch Straßen überspülen. Als wir das erste Mal so ein Oued durchqueren, denken wir noch nicht daran, woher die rötliche Suppe, die über die Straße sprudelt, wohl gekommen sein mag. Unter großem Hallo radelten wir durch das recht tiefe, strömende Naß - abzusteigen wäre gegen unsere Radfahrerehre gewesen. Es soll jedoch noch der Tag kommen, an dem uns das mit der Herkunft der Oueds beschäftigen wird...

Nur noch 40 km Piste trennen uns jetzt vom Erg Chebbi, dem ersten Ziel unserer Reise. Wir sind in Rissani, einem expandierenden Ort mit allen Versorgungsmöglichkeiten und rüsten für die Wüstentour auf:  mit 9 Litern  Wasser pro Person im Gepäck und Erkundigungen über den Pistenverlauf starten wir am späten Vormittag in immer größer werdender Hitze mit den besten Wünschen von neugierigen Beobachtern nach Merzouga. Gesicht, Hände und Waden vor der Sonne schützen, letzte Materialprüfung am Bike, Halbierung des  Reifendrucks und los geht’s über Wellblechpiste. In der flimmernden Hitze ist keine eindeutige Spur zu erkennen, jeder Fahrer sucht sich seinen Weg.  Da sich die Hammada topfeben und strauchlos in alle Richtungen ausdehnt, ist es schwierig, die Position zu halten. Glücklicherweise haben wir ein GPS - Navigationsgerät dabei, das uns die Suche nach dem Erg  sehr erleichtert. Auf unserer Strecke liegt ein Skelett von einem Dromedar, das es nicht geschafft hat - nicht gerade beruhigend, wenn man bedenkt, daß diese Tiere mehrere Tage ohne Wasser in großer Hitze und Trockenheit leben können.  Hinter uns braut sich überflüssigerweise noch ein Sandsturm zusammen. Mit einem flauen Gefühl im Bauch geht es mühsam auf dem Wellblech voran. Hatten die Leute in Rissani doch recht, ist es „impossible“, unmöglich, diese Strecke mit dem Rad zu befahren?  Nein, jetzt bitte keine Panne. Doch wieder ist es Joe, der den Schwarzen Peter gezogen hat - Plattfuß. Nach  5 Stunden blanken Nerven erreichen wir Merzouga unversehrt und finden den Campingplatz unserer Wahl: wie eine Fata Morgana liegt ein von einem französischen Paar geführtes Hotel mit angeschlossenem Campingplatz, deren Küche hochgelobt ist, vor uns. Feierlich fahren wir durch das Tor auf den Platz. Zur Belohnung bleibt unser Benzinkocher dann auch kalt und wir lassen uns mit einem Menü verwöhnen und  gönnen uns eine Flasche Wein aus Meknes.

Der Erg Chebbi wird gern als  Sahara für Einsteiger bezeichnet: mit bis zu etwa 100 Meter hohen Dünen und einer Länge von 25 Kilometern ist er das größte Sanddünengebiet Marokkos. Klar, daß wir es uns nicht entgehen lassen, die höchste Düne zu besteigen. Nach einem anstrengenden Aufstieg durch den feinen Sand werden wir oben mit einem atemberaubenden Blick belohnt. Wir sehen die Hammada, über die wir geradelt sind, blicken zurück nach Rissani und sehen Erfoud, unser nächstes Ziel, zum Greifen nah. Auf der anderen Seite erahnen wir Algerien. Tafelberge begrenzen die Steinwüste, Flüsse, von Palmen umsäumt,  durchschneiden wie kleine grüne Schlangen die trockene Landschaft und wir entdecken sogar einen See - oder ist es eine Fata Morgana? Erst kurz vor Sonnenuntergang verlassen wir schweren Herzens unseren grandiosen  Aussichtspunkt.

Der See, den wir von der Großen Düne gesehen haben, war keine Fata Morgana. Der Dayet Sri liegt etwa 5 km vom Erg entfernt. Er  füllt sich nur alle paar Jahre mit Wasser und ist dann ein in dieser Landschaft surrealistisch wirkendes Reservat für Vögel, unter anderem auch für Flamingos. Nach ausgiebigen Naturbeobachtungen am See genießen wir die letzte Wüstennacht am Erg Chebbi bei Vollmond  und planen die Abfahrt nach Erfoud, dem Ausgangspunkt für den zweiten Teil unserer Reise, für den kommenden Tag.

 

typische WüstenlandschaftNach 50 km Wellblech entlang einer Telegraphenleitung die uns die Orientierung in der Hammada dieses Mal erleichtert, kommen wir quasi durch die Hintertür nach Erfoud. Die Zivilisation hat uns wieder: wir radeln entlang einer Mülldeponie, dann müssen wir ein Oued, das die Straße überspült hat und das den Frauen des Ortes kurzfristig  als Waschküche dient, überqueren. Die Stimmung der Frauen ist ausgelassen. Anders bei uns. Nach der Stille der Wüste ist dieser Ort nicht das, was wir erwartet haben: Immerhin ist Erfoud die Hauptstadt des Tafilalet, des größten zusammenhängenden Oasengebietes Marokkos. Im Mittelalter war der Ort Karawanenstützpunkt. Sklaven und Gold wurden aus Schwarzafrika nach Marokko, Arabien und später auch nach Europa gebracht. 1917 gründeten die Franzosen hier einen Militärstützpunkt. Uns empfängt jedoch kein Hauch von 1001 Nacht: am verlassenen Markt wird fauliges Obst und Gemüse angeboten, in den Arkaden riecht es nach Urin, der Campingplatz ist geschlossen. Der Platz soll völlig neu konzipiert werden und 1998 fertig sein - Inch Allah. Nachdem wir uns vom ersten Schock erholt haben, lernen wir die andere Seite des Ortes kennen: Bank, Hotel, Restaurants und nette, aufgeschlossene Leute. Bei einem Café kommen wir mit Mohammed ins Gespräch. Von ihm erfahren wir, daß unser Traumziel nicht so zu erreichen sein wird, wie wir uns das vorgestellt haben, da es im Hohen Atlas erhebliche Niederschläge gegeben hat und dort viele Pisten unpassierbar sind. Das Wasser fließt über die Berghänge nördlich und südlich ab. Die Auswirkungen hier im Süden, immerhin 200 km weit vom Atlasgebirge entfernt, sind die wasserführenden Oueds.

Ist unser Traum damit nicht erfüllbar? Enttäuscht hängen wir über unseren Karten und finden nur eine Alternative: über Rich, also von Osten, in den Atlas einzusteigen. Hierzu ist zu sagen, daß diese Route nirgendwo genauer beschrieben ist, wir also überhaupt nicht wissen, was auf uns zukommen wird.

Doch gesagt, getan: am folgenden Tag sitzen wir in dem Bus, der uns von Erfoud in das gut 150 km entfernte Rich bringen soll. Die Räder und Gepäcktaschen sind auf dem Busdach festgezurrt, wir haben jeder einen Sitzplatz ergattern können und genießen die Fahrt durch die Oasengärten. Doch die Idylle täuscht. Tatsächlich sind der Trockenheit mehrerer Jahre viele Palmen zum Opfer gefallen. Die Bestände können sich, auch wenn es jetzt regnet, nicht mehr erholen, wodurch vielen Oasenbauern die Lebensgrundlage entzogen wurde. Eine neue Geldeinnahmequelle erhofft man sich über den Tourismus. Doch fraglich ist, ob  das ökologische Gleichgewicht erhalten werden kann, wenn Touristen trotz Wasserknappheit aller Komfort geboten werden soll.

Die Busfahrt ist ein Erlebnis: ein Fahrgast klatscht, der Busfahrer läßt ihn auf freier Strecke aussteigen . Auch hält der Fahrer auf freier Strecke an, um Leute mitzunehmen, die ihm ein Zeichen geben, anzuhalten. So reduziert  sich die Stundengeschwindigkeit auf  30-40 Kilometer. Plötzlich Lärm im vorderen Teil des Busses: es gibt einen Streit zwischen dem Busfahrer und einem Fahrgast, bei dem ein Sitzplatz aufgeschlitzt wird und die Füllung sind über den Gang ergießt. „Worum es geht?“ Keiner kann uns das beantworten.

Mittags steigen wir in Rich aus dem Bus. Die Schaukelei hat uns zu schaffen gemacht und die Luft ist hier, Rich liegt erheblich höher als Erfoud, dünner und frischer, so daß wir uns erschöpft in den Schatten eines Cafés zurückziehen und das bunte Treiben im Ort beobachten.

Hier werden wir von einem einheimischen Bergführer angesprochen, der Verwandte in Imilchil hat und uns einige Tips zur Strecke geben kann. Wie sich herausstellt, hat er jedoch die Absicht, uns vom Radl auf Schusters Rappen zu holen. Er gibt sich wirklich alle Mühe, die Strecke als „impossible pour le bicyclette“ und „je suis guide“ , also als mit dem Rad und ohne Führung unmöglich, erscheinen zu lassen. Als er uns nicht überzeugen kann, wünscht er uns trotzdem viel Glück und  bittet uns, seine Verwandten zu grüßen, Inch Allah, also falls wir es schaffen sollten.

Wir sind nun wildentschlossen und fiebern unserem nur 150 km Luftlinie entfernten Ziel entgegen. Die Stecke  beginnt ganz zahm. Hinter Rich öffnet sich ein weites fruchtbares Tal. Die Straße ist zwar in schlechtem Zustand, aber immerhin sogar geteert. Zu unserer Überraschung liegen etwas von der Straße entfernt immer wieder Orte an den Berghängen, die auf unserer Michelin-Karte gar nicht eingezeichnet sind. Auf der Straße begegnen uns Einheimische per Rad, Esel oder zu Fuß, die uns begeistert zuwinken und anfeuern. Leider müssen wir aber feststellen, daß es in diesen Orten keine offensichtlichen Versorgungsmöglichkeiten gibt. Als das Wasser zur Neige geht, wird uns mulmig zumute. Wir bitten an verschieden Häusern um Wasser, doch scheinbar haben die Leute selbst nur geringe Mengen vom kostbaren Naß in Wassersäcken aus Tierhäuten gespeichert. Neun Liter pro Person kann uns da keiner anbieten.  Also müssen wir auf eine andere Gelegenheit hoffen: als wir kaum noch daran glauben, fündig zu werden, steht direkt neben der Straße eine Zapfstelle, an der eine Frau mit ihrem Esel steht, die gerade ihre Wassersäcke auffüllt. Wir sind überglücklich und füllen  unsere gesamten Wasservorräte auf. Auch wenn wir nun jeder 12 kg mehr mit uns herumschleppen und es stetig bergauf geht, so haben wir doch erst einmal für zwei Tage vorgesorgt. Auch einen Tag später meint es der Zufall gut mit uns, denn im einzig eingezeichneten Ort auf der Strecke gibt es tatsächlich ein Café, in dem wir Wasser kaufen können. Als wir den Gesamtvorrat von fünfzehn 1,5l Flaschen aufkaufen, werden wir zwar für verrückt erklärt, aber man wünscht uns „Bon Voyage“, Gute Reise.

ZeltplatzDie Bewohner des Hohen Atlas sind Berber, die uns sehr freundlich und aufgeschlossen begegnen. Die Frauen sind nicht verschleiert und haben im Gegensatz zu ihren arabischen Geschlechtsgenossinnen viele Freiheiten.  Zwar sind auch sie es, die auf dem Feld ackern, schwere Körbe mit Gräsern tragen und die Herden hüten, doch strahlen sie eine Freude und ein Selbstbewußtsein aus, das bei den Araberinnen selten zu finden ist.  Hier oben in den Bergen scheint die Zeit scheint stillzustehen. Die Menschen  leben wie schon  ihre Ahnen in einfachen Lehmhäusern, es gibt keinen Strom, kein fließendes Wasser, die Wäsche wird im Fluß gewaschen, zu essen gibt es das, was die Natur zu bieten hat. Geheizt wird mit Holz, das gesammelt werden muß, denn Baumbestände gibt es hier nicht und die kargen Hänge geben kaum etwas her.

Transportmittel sind Esel, die bis zur Belastungsgrenze beladen werden. Als wir so eine Gruppe überholen, bricht ein Tier unter seiner Last zusammen und wird lachend aufgerichtet. Weiter geht’s. Daß die Menschen die Gelegenheit wahrnehmen, uns nach Zigaretten, Medikamenten (Aspirin) und Kleidung zu fragen, wundert kaum, denn wir müssen für sie wie Wesen von einem anderen Stern sein. Doch kommt die Frage auf, wer glücklicher sein mag? Wir mit all unserem Komfort oder sie im Rhythmus der Natur. Zumindest sind wir glücklich, aus unserem Alltag ausgebrochen zu sein und Bekanntschaft mit dieser Welt machen zu dürfen.

Nun, bereits auf 2000 m Höhe, Bauverkehr. Die Straße ist inzwischen  von einer Piste abgewechselt worden, die sich immer weiter hinaufschlängelt. Planierraupen trassieren die Piste, ein Tankfahrzeug sprengt die glatte Fläche mit Wasser. Drumherum Berber, die ihre Felder singend mit einfachen Hacken  bearbeiten - da fragen wir uns, für wen denn diese Aktion gut sein soll, etwa für uns Touristen?

Langsam zehrt die Strecke an unseren Kräften, Thomas bekommt plötzlich hohes Fieber, ich habe Durchfall. Doch wir müssen weiter. Hinter jeder Kurve gibt es etwas Neues zu entdecken, wie zum Beispiel die Nomadenzelte dort links neben der Strecke. Die braunen Zelte sind so gut an die Landschaft angepaßt, daß sie wie Schatten aussehen. Erkannt  haben wir sie nur, weil die Nomaden für ihre  Schafe und Ziegen einen Steinpferch gebaut haben, in dem die Tiere über Nacht eingesperrt sind. Als wir eine Paßhöhe erreichen, breitet sich vor uns ein endlos weites Tal aus, in dem eine große Siedlung steht. Ist das Imilchil?

Als wir dort ankommen, erfahren wir, daß der Ort D’Agda heißt, und daß Imilchil noch etwa 20 km entfernt sei. Bei einem Café lernen wir Ismael kennen, der gerade 14 Jahre Wehrdienst in der Mauretanischen Wüste hinter sich gebracht hat und nun seine Familie in Imilchil besuchen will. Er ist eine stolze Erscheinung mit sonnengegerbtem Gesicht, sauberer Kleidung und guter Ausrüstung. Wie er dort hingelangen wolle? Bis hier sei er mit einem Pritschen-LKW gekommen und nun warte er auf eine neue Mitfahrgelegenheit. Wir sind skeptisch, denn seit mehreren Tagen haben wir keine Autos mehr gesehen, abgesehen von den Baufahrzeugen auf der Trasse. Trotzdem wünschen ihm Bonne Route, als wir unserer treuen  Räder zum Endspurt besteigen.

Die Piste wird ruppiger. Wir müssen uns voll auf die Strecke konzentrieren, Geröll ausweichen, aufgeweichte Passagen überwinden, Furten durchqueren. Die Anspannung ist so stark, daß wir die wunderbare Natur kaum wahrnehmen: rechts die mineralienhaltigen Felswände mit ihren Grün- und Violettschattierungen, links das erste zarte Grün der Pappeln, das kräftige Grün der Gerste auf den Feldern, aufgelockert von roten Klecksen Mohn , ein Farbfeuerwerk, das rötlichen, aus Lehm erbauten Ortschaften als Kulisse dient.

Auf dem Weg nach Imilchil Gerade stürmt ein Berber auf einem nervösen Araberhengst an uns vorbei, als wir einen Meilenstein entdecken, auf dem Imilchil eingeritzt ist. Wir haben es geschafft, besetzten den Stein und  machen erst einmal eine Fotosession. Als wir aus unserer Euphorie erwachen und uns umblicken, erscheint uns der Ort viel kleiner als erwartet. Es gibt neben den typischen rötlichen Lehmhäusern, die zum Teil Stromversorgung haben, ein paar Herbergen und Cafés, in denen man ein Eieromelette und Salat bekommen kann. „Das ist jetzt genau das Richtige“, beschließen wir und setzten uns auf die Terrasse eines Cafés . Der Patron ist der Verwandte von dem Bergführer aus Rich. Stolz übermitteln  wir ihm seine Grüße, denn wir haben es auf unseren Rädern ohne Pannen geschafft. Wir genießen die einfache Mahlzeit wie ein Fünfgängemenu, hatte es doch die letzten Tage nur Tütengerichte  und altes Brot gegeben. Langsam kühlen wir aus. In über 2000 m Höhe hat die Sonne weniger Kraft und so müssen wir uns warm anziehen, wenn wir draußen sitzen bleiben wollen.

Nun können wir uns, gestärkt und entspannt, einen Überblick verschaffen. Der Ort hat einen zentralen Marktplatz, auf dem ein altes Tischfußballbrett steht, um den sich eine Traube Jugendlicher versammelt hat, die sich gegenseitig beim Spiel anfeuern. Am Rand dieses Platzes stehen abgeschlossene Blechbuden, die zum allwöchentlichen Markt geöffnet werden.

Es gibt einen Bäcker und Lebensmittelgeschäfte, wo wir uns mit Marmelade, Thunfischdosen, Nudeln  und Tomatenmark eindecken, den typischen marokkanischen „Grundnahrungsmitteln“ für uns Touristen. Die frischen Sachen kann man immer nur auf dem Wochenmarkt ergattern. Leider, so erfahren wir, war der gerade gestern und wird erst in einer Woche wieder stattfinden. Doch dann müssen wir schon wieder auf dem Weg zur  Küste sein, um unseren Flieger zu bekommen.  Es ist kaum vorstellbar, daß in der Nähe von Imilchil einmal  im Jahr der berühmteste  Heiratsmarkt der Ait Hadiddou-Berber, das Moussem der Bräute, stattfindet und dann Tausende von Menschen auf LKW-Pritschen in die Einsamkeit der Berge kommen, um mitzufeiern. Dieser Brauch ist , wird uns erzählt, entstanden, um für die Brauteltern Zeit und vor allem Kosten zu sparen. Statt vieler aufwendiger einzelner Hochzeiten wird einmal im Jahr kollektiv geheiratet - sehr praktisch. Natürlich ist dieses Ereignis auch der Tourismusbranche nicht unbekannt geblieben. Die Berber haben sich jedoch angepaßt: durch die Verfremdung finden Verheiratungen hier immer weniger statt, die Feier wird vielmehr ein  Spektakel, auf dem Tiere und sonstige Waren verkauft werden. Geheiratet wird nun woanders, aber wo, daß will  uns der Patron nicht verraten.

Wir fahren nachmittags weiter in die Bergwelt hinein. Unser Ziel ist der Lac Tislit, der  5 km nördlich von Imilchil liegt. Dort wollen wir ein paar Tage zelten und neue Kräfte sammeln.

Um den Lac Tislit rankt sich  eine Legende , die gern mit dem  Heiratsmarkt in Verbindung gebracht wird. Tislit heißt Braut. Es gibt noch einen weiteren See, den Lac Iseli , was Bräutigam heißt. Die Seen sollen durch die Tränen eines Liebespaares entstanden sein, die nicht heiraten durften, weil ihre Familien verfeindet waren.

Als der Lac Tislit  vor uns als eine von mineralienhaltigen Bergen umgebene, spiegelglatte Fläche auftaucht, in der sich die Bergwelt verdoppelt, verstehen wir, wie die Berber auf diese romantische Geschichte gekommen sind. Ehrfürchtig radeln wir am Ufer des Sees entlang bis zu dem Hotel du Lac, das aussieht wie eine Lehmburg und wunderschön am Ufer des Sees gelegen ist. Wir scheinen an diesem Tag die ersten Gäste zu sein. Vor dem Hotel sitzt ein alter Mann und repariert ein riesiges Nomadenzelt mit Nadel und Faden. Auf der Terrasse sitzen zwei Männer und trinken Café. Dort bitten wir um Erlaubnis, zelten zu dürfen. Gegen eine geringe Gebühr können wir es uns gemütlich machen, wo es uns gefällt und dürfen die Sanitäranlagen des Hotels benutzen. Nachdem wir unsere Zelte unter Pappeln aufgestellt haben, nutzen wir nach einer Woche „radeln im eigenen Saft“, gern die warme Dusche und waschen alles, was wir am Leib haben. Natürlich sind auch unsere Räder mal wieder fällig für eine Wartung.

Die Nächte hier oben auf  etwa 2350 Metern sind auch Ende April noch kalt. So hat es die erste Nacht gefroren und auch am Morgen sind trotz Sonnenscheins noch 0° C. Nebel hängt in den Bergen, der See liegt klar vor uns, ein Hirte treibt seine Schafe zum Grasen an den See. Um sich die Zeit zu vertreiben, spielt er Flöte. Neben uns sitzen wir zwei Angler, die, Stunden später, von einer Frau mit Essen versorgt werden. Gestört wird diese Idylle am Nachmittag von Motorradcrossern, die dreckverkrustet im Pulk zum Hotel kommen. Einer von ihnen fährt mit dem Motorrad über die Treppe auf die Terrasse. Ein anderer pinkelt in den See. Zwei weitere ziehen sich splitternackt aus und springen ins kalte Wasser. Wie sich herausstellt, haben diese französischen Helden die nördlich gelegene Piste bezwungen und müssen sich erst einmal entspannen, bevor sie noch heute weiter ins Tal fahren. Wenn man einmal das Seemannsgarn dieser tollkühnen Kerle wegstreicht, so hat sich unsere Idee, nördlich aus dem Hohen Atlas nach Marrakech zu radeln, erledigt. Die gesamte Strecke sei eine einzige klebrige Rutschbahn, was wir den Typen, so wie sie aussehen, sofort abnehmen. Uns bleibt also nur die südliche Variante, die die Oueds in der Wüste speist, was uns auch nicht gerade in Euphorie versetzt.    

Den letzten der drei Abende verbringen wir plaudernd mit den Hotelbesitzern, die in der Hotelhalle den Bollerofen angemacht haben. Wir erfahren einiges über die marokkanische Bürokratie und bekommen einen Einblick in das schwierige Leben ohne Sicherheiten, wie wir sie von zu Hause kennen.

Im Hohen AtlasSchweren Herzens trennen wir uns von dem liebgewonnenen Ort. Wir machen erste Bekanntschaft mit einer neuen Schwierigkeit: es klingt zwar unlogisch, ist aber so, daß das Bergauffahren auf Piste einfacher ist, als das Bergabfahren. Gerade für mich ist es sehr schwierig, stundenlang die Bremsen auf Spannung zu halten und dabei noch konzentriert auf alle Unebenheiten der Strecke zu reagieren. Die Hände verkrampfen sich, der Nacken schmerzt und es geht kaum schneller voran als bergan.  So kommt das Café Moussem nach über 20 Kilometern Anspannung gerade recht. 

Bei Sonne auf der Haut und einem warmen Café entspannen wir uns  zusehends. Um uns herum neugierige Einheimische, mit denen wir versuchen, ins Gespräch zu kommen, um Informationen über den weiteren Streckenverlauf zu erhalten. Leider müssen wir hier wieder einmal feststellen, daß wir diesbezüglich von den meisten Marokkanern keine nützlichen Hinweise bekommen können. Das Wetter ist gottgemacht und interessiert die Menschen genauso wenig wie der Zustand irgendwelcher Pisten. Glücklicherweise begegnen uns zwei Berliner in einem Geländefahrzeug, die uns beruhigen: die Piste sei, bis auf ein, zwei Abschnitte, trocken und befahrbar.

Die Landschaft in diesem Teil des Hohen Atlas ist wieder ganz anders als die entlang der Strecke Rich-Imilchil. Die Hochebene, in der wir uns jetzt befinden, ist beinahe vegetationslos. Die Landschaft wirkt trotzdem lebendig, denn die mineralienhaltigen Gesteinsformationen geben eine unglaublich vielfältige Palette an Farben her. In dieser unwirtlichen Landschaft gibt es dennoch einige bewohnte Siedlungen. Ein in der Karte verzeichneter Marktflecken von größerer Bedeutung ist Agoudal. Hier teilt sich die Piste in Richtung Tinerhir und Boulmane du Dades auf. Wir werden die Piste durch das Dades-Tal wählen.

Staubig empfängt uns der Ort. Über Häuser, Menschen, Tiere und Pflanzen hat sich feiner Staub wie eine Patina gelegt. Als wir im einzigen, sehr ärmlichen Café des Ortes anhalten, stehen schmuddelige Kinder mit Rotznasen neugierig um uns herum. Der Anblick solch großer Armut tut weh und stellt unser Selbstverständnis in Frage. „Was machen wir hier eigentlich?“ Etwas betreten essen wir unsere Omelettes und fahren nachdenklich weiter.

Die Piste wird ruppiger. Einige Passagen sind mit dem Auto nicht zu befahren. Wir können mit unseren Rädern zum Glück auf Ziegenpfade oberhalb der schlechten Piste ausweichen. Als sich der Pfad und die Piste wieder vereinigen, wird es auch für uns schwierig. Bei einer Steigung von bis zu 15 Prozent auf sehr schlechtem, von großen Steinen durchzogenem Untergrund müssen wir, allem Ehrgeiz zum Trotz, immer wieder schieben. Die Kräfte schwinden genauso wie unsere Wasservorräte. Gab es um Imilchil herum an jeder Ecke Quellwasser, so ist hier alles staubtrocken. Als wir dann einen nach 25 Kilometern hinter Agoudal avisierten Brunnen nicht vorfinden, stehen wir ganz schön auf dem Schlauch, denn lange reichen die Vorräte nicht mehr. „Zur Not müssen wir die Schneereste an den Hängen auftauen oder Wasser aus Pfützen filtern“, denken wir, als wir von weither Motorengeräusche hören.  Wie sich herausstellt, handelt es sich um einen deutschen Landcruiser. Wolfgang und Jan, die auf Abenteuertour kreuz und quer durch Marokko fahren, helfen uns gern aus der Klemme. Gemeinsam zelten wir auf einer grünen Hochplateauwiese.

Am späten Nachmittag kommt unerwarteter Besuch. Ein kleiner, lumpig gekleideter Hirte mit einem sehr freundlichem und offenen Wesen setzt sich zu uns und genießt einfach nur die menschliche Gesellschaft.  Wir können uns mit ihm zwar nur in Zeichensprache verständigen, verstehen uns aber sofort bombig. Er ist 8 Jahre alt und paßt mit seinem Hund ganz allein auf die Herde auf. Scheinbar schläft er auch, trotz der nächtlichen Kälte, in den Bergen. Von unseren Nachbarn bekommt er eine Tasche, die er unbedingt haben möchte, geschenkt und verschwindet erst in den Berghängen, als es dunkel wird. Gekrönt wird dieser Abend von einem Cognac, den Wolfgang aus der Tiefe des Chassis hervorkramt.

Als wir am nächsten Tag steif und klamm - es hat gefroren -  aus unseren Zelten kriechen, duftet es nach Filterkaffee. Wir würden Wolfgang und Jan am liebsten als Begleitfahrzeug anmieten, doch haben sie leider andere Pläne. Freundschaftlich trennen wir uns uns radeln in Richtung des höchsten Passes, den wir je auf Pisten gefahren sind.

Auf dem Weg begegnen wir Frauen auf Eseln, die in der traditionellen Tracht der Ait Haddidou-Berber gekleidet sind: sie tragen schwarzweiße Wollumhänge. Ihre spitzen Hauben zeigen uns , daß sie alle verheiratet oder geschieden sind. Bevor sie an uns vorbeiziehen, gehen sie Jan aber noch im wörtlichen Sinne „an die Wäsche“. Sie zerren an seinem Halstuch, als dürften sie sich selbstverständlich bedienen. Wir sind irritiert. Die Szene war zwar nicht gefährlich aber doch bedenklich, geben wir uns doch alle Mühe, niemanden in diesem schöne Gastland zu verstören. Dürfen wir nicht auch den gleichen Respekt von den Einheimischen erwarten?  

Schlucht des DadesNachdenklich radeln wir weiter in Richtung Paßhöhe. Auf  3000 m Höhe angekommen, sind alle trüben Gedanken und körperlichen Anstrengungen wie weggeblasen. Hunderte von Metern unter uns frißt sich der Dades wie ein grünes Band durch Felsschluchten und hinterläßt Spuren im Gestein, die wie Höhengrade auf einer Landkarte aussehen. Wir wollen diesen Aussichtspunkt gar nicht mehr verlassen, doch zwingen uns die zur Neige gehenden Vorräte voran.

Bei der Abfahrt fühlen wir uns frei  wie der Adler, der neben uns seine Kreise zieht. In dem ersten Abschnitt ist die Piste steinfrei und sehr gut zu befahren, beinahe so glatt wie Asphalt Immer wieder bieten sich grandiose Ausblicke auf die Schluchten unter uns. Leider weilt dieses Glück nicht lange, bis wir uns über steinige Piste wieder in unsere Bremsen krallen und voll auf den Boden konzentrieren müssen.  Überrascht stellen wir fest, daß diese Seite des Hohen Atlas wieder fruchtbar ist. Wir fahren vorbei an saftigen Wiesen, auf denen  Frauen Gräser in ihre großen Flechtkörbe auf den Rücken laden, an anderer Stelle weiden Esel, Ziegen und Schafe, immer wieder erahnen wir Ortschaften, die an den Felswänden wie Schwalbennester kleben . Die Menschen, denen wir hier begegnen, sind ausgelassen, grüßen, lachen und bieten uns einmal sogar Brot an.

Am Ende dieser Piste angekommen, müssen wir eine Furt queren. Zuerst können wir noch fahren, doch als das Wasser dann knietief ist, müssen wir absteigen und schieben. Johlend werden wir von einem Pulk Jugendlicher beobachtet, die irgendwie mit ihrem Auto hierher gekommen sind und uns nun durch das Wasser hupend verfolgen. Plötzlich, als der Motor im tiefen Wasser regelrecht absäuft, haben wir die Lacher auf unserer Seite. Grüßend fahren wir weiter, vorbei an in immer kürzeren Abständen aufeinanderfolgenden namenlosen Ortschaften.  

Das Wetter scheint umzuschlagen. Der Himmel ist pechschwarz und in der Ferne hören wir ein Gewitter aufziehen. Als es dann anfängt zu regnen, bietet uns ein Mann Unterschlupf in seiner Lagerhalle an, in dem alles vom Motor bis zum Getreidesack herumsteht. Genauso schnell, wie der Regen begonnen hat, hört er wieder auf, obwohl der Himmel immer noch düster ist. Der Mann meint, wir können nun weiterfahren, es wird trocken bleiben. Wir verabschieden uns von ihm und freuen uns, daß er Recht behalten soll.  

AtlaskettenAn diesem Abend erreichen wir die Zivilisation wieder. Der Ort heißt Msemrir, liegt 1000 Höhenmeter unterhalb der Paßhöhe und hat alle Versorgungsmöglichkeiten, eine Post und sogar öffentliche Telefone. Wir beziehen zur Feier des Tages ein Hotelzimmer, duschen wieder einmal warm und gehen abends Essen. Der Patron eines Restaurants führt uns ins Obergeschoß seines Lokals, wo wir in einem traditionellen Salon Platz nehmen. Der Raum ist traditionell eingerichtet: es gibt keine Stühle, dafür aber Sitzkissen, die mit Teppichen bezogen sind und flachen Tische, auf denen das Essen serviert wird: für einen geringen Preis bekommen wir ein ausgezeichnetes Menü, bestehend aus Tomatensalat, Couscous mit Hammelfleisch,Orangen und Minztee. Mit vollem Magen verbringen wir die seit Tagen erste Nacht im Bett. Welch ein Luxus!  

Schwerfällig steigen wir am nächsten Morgen aufs Rad, um uns vom Dades-Tal zu verabschieden. Die Piste ist einfach zu befahren. Es geht trotzdem nur schleppend voran. Die letzten Tage haben uns doch sehr in Mitleidenschaft gezogen und so nehmen wir jede  Möglichkeit wahr, Pausen zu machen.

Während einer Kaffeepause berichtet uns der Besitzer eines kleinen Hotels , daß er auf den Individualtourismus zählt. Viele Menschen kommen, um sich die Schlucht anzuschauen oder auch Sport zu treiben. So hatte er im Frühjahr bereits eine kleine Gruppe untergebracht, die auf dem Dades geraftet ist. Er will sich auf den Tourismus einlassen und sorgt auf seine Weise vor: er hat das Hotel in Handarbeit auf beide Flußseiten ausgebaut, ist sehr freundlich und bietet verschiedene Wanderungen und Eselstouren in die Umgebung an. Den richtigen Standort, nämlich die wildromatische Umgebung mit der engen Schlucht und den noch sehr ursprünglich wirkenden Berberdörfern, hat er sich jedenfalls gut ausgesucht. Als wir ihn verlassen und weiter ins Tal rollen, sehen wir, daß er nicht der einzige ist, der ein Stück vom Touristenkuchen abbekommen möchte. An der Straße stehen noch gut verteilt, aber schon in kurzen Abständen aufeinanderfolgend, Teppichläden neben Restaurants und Hotels.

Inzwischen haben wir wieder Asphalt unter den Rädern und können uns voll auf die Umgebung konzentrieren. Dieser letzte Abschnitt des Dades-Tals bietet landschaftlich fast alles, was wir bislang in der Einsamkeit genossen haben: Einblicke in spektakuläre Schluchten wechseln sich mit atemberaubenden Felsformationen ab. Links von uns sehen wir rötliche Felsfinger, die wie eine wogende Affenhorde  aus dem Boden ragen. Daneben, umgeben von lichtgrünen Pappeln, ein gut erhaltener Kasbahkomplex. Diese Burgen sind typisch für die Architektur der Berber und dienten Stämmen oder ganzen Dörfern als Zufluchtsort bei Angriffen feindlicher Stämme.  

Als wir dann in einen größeren Ort kommen, trauen wir unseren Augen kaum. Ungewohnt viele Touristen scharen sich hier um Cafés und Souvenirläden. Bei Sonnenschein sitzen wir auf der Terrasse eines Cafés und lassen die Reise vor der großartigen Bergkulisse Revue passieren. Um uns herum westeuropäischer Trubel, bekannte Geräusche.  Als wir von einer deutschen Reisegruppe, die hierher mit dem Bus einen Tagesausflug macht, angesprochen werden : „Sind Sie mit einer organisierten Radgruppe hier?“ denken wir, mit Blick auf die Berge: „Irgendwann fahren wir nach Imilchil...“  

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