ein Bericht von Jan:
Eine
Wiederholung der letztjährigen Alpenpfingstradtour nach Österreich mit Ingo
sollte dieses Jahr stattfinden. Allerdings sah
es zunächst so aus, als würden wir zu Viert losfahren: Torsten
und Alexander meldeten reges Interesse und wir dachten
Ziemlich bald jedoch verloren wir Toddy, der nicht nur einige Referate ausarbeiten und an einer Exkursion teilnehmen mußte, sondern auch in Hinblick auf die in der Firma seines Vaters anfallenden Arbeiten lieber zuhause bleiben wollte.
Unsere Routenplanungen wurden an einem Freitagabend zu Dritt komplettiert und festgehalten: der Bahnfahrt nach Basel (Supersparpreis 130.- für den ersten, 65.- für jeden weiteren Teilnehmer) sollte eine Route über Biel, Fribourg, den Jaunpaß, den Thuner See, die Große Scheidegg, eine Rundfahrt über die Pässe Furka, Grimsel und Susten zurück nach Basel folgen. Nachdem wir wenige Tage vor Beginn der Reise in Alexanders Garten ein Probeliegen in einem unserer Zelte verabredet hatten (ein bißchen eng war’s in dem Zweimannzelt schon... ,) fuhren Ingo und ich zu Aldi und erledigten den obligaten Einkauf, denn die Schweiz ist ein in fast jeder Hinsicht teureres Land als das unsere. Für fast 100.- DM füllten sich unsere Lowrider mit 2 Salamis, 3 Paketen Wurst, Streichkäse, Gouda, 2 Fischdosen, 10 Paketen Quench, 10 Tafeln Schokolade, 2 kg Müsli, 2 Paketen Mirakuli, 6 Tütensuppen, Nudeln, Marmelade, Nutella, Bananen, Tee, Müsli riegeln, Ballistos, Margarine und - ...unserem neuerworbenen Trangia-Spirituskocher, zum Bereiten der warmen Mahlzeiten.
Am
Mittwochabend, dem Tag vor unserer Abreise, meldete Alexander leider Bedenken an
seiner Teilnahme an der Reise an, da ihm einerseits die Knie schmerzten,
andererseits das nach wie vor schlechte Wetter ihn am Erfolg der Reise zweifeln
ließ. Seine definitive Absage erhielten wir am Donnerstagmorgen, ein Termin im
Bundeswehrkrankenhaus erlöste ihn von seinen Zweifeln und bereitete uns einige
hektische Stunden, zumal eine Absprache über Verteilung von Zelt und Kocher,
Werkzeug usw. schnell gemacht werden mußte. Immerhin bedeutete Alexanders
Fehlen eine Gewichtsvergrößerung von einigen Kilo, die man beim Bereisen von
Paßhöhen mit dem Fahrrad sicherlich nicht so leicht verkraftet, wie im
Flachland oder im Auto. Wir beschlossen jedoch auf kein Utensil zu verzichten
und verabredeten uns um 21.00 h bei Ingo zum gemeinsamen Abschlußessen.
Christine, Torsten, Ingo und ich nahmen eine große Portion Spaghetti zu
uns, wir bepackten die Räder und machten uns gegen 21.40 Uhr auf die Socken.
Das Fahrverhalten meines vollbeladenen Rades war vorbildlich, immerhin mußten
über 30 kg Gepäck bewegt werden. Ingo klagte hingegen über Resonanzen, die
das ganze Vorderrad in Schwingungen versetzten.
Am
Bahnhof wartete Ulrike noch auf uns, sie steckte uns einen Riesenbeutel mit
Fressalien zu. Alexander war nicht erschienen, auch nicht meine Eltern, von
denen ich es eigentlich erwartet hatte, Meike war ja noch in Dänemark, sie
konnte also leider auch nicht da sein.
Zwei
weitere Radler entluden gerade ihre Reiseräder, sie wollten auch nach Basel,
eine Fahrt durch die Schweiz machen. Schnell sicherten wir uns ein Abteil, das
wir mit den 10 Taschen, zwei Helmen, einem Schlafsack und zwei Trinkflaschen
auch locker füllen konnten, und pünktlich um 22.20 h rollte der D 472 aus dem
Bahnhof. Endlich wieder auf Tour! Am Hauptbahnhof schaute ich noch vergeblich
nach Lutz aus, der im selben Zug ein Liegewagenabteil (mit seiner Freundin auf
der Fahrt nach Südfrankreich) gebucht hatte. Sie wollten in Offenburg
umsteigen.
Glücklicherweise
stieg nur noch ein mittelalter Herr bei uns ins Abteil hinzu, die große Menge
der Reisenden hatte uns schon Schlimmes befürchten lassen. Schnell klappten wir
die Sitze zu einer großen Liegefläche aus und rollten uns zusammen. Lediglich zwei Personalwechsel ließen Fremde in unser Abteil
eindringen, einmal sahen wir unsere Reise schon dem Ende zugehen, denn die neue,
wohl anzulernende Schaffnerin behauptete steif und fest, wir dürften mit dem
Super-Sparticket nur bis 3.00 h an einem sog. Ausschlußtag, wie heute, reisen.
Ich wußte es aber besser, und irgendwie ließ sich die junge Frau auch schließlich
überzeugen. Wie üblich wachten wir an jedem Bahnhof auf, wenn die berühmten
Alukisten, das Gräuel jedes Nachtzugreisenden, auf die Ladefläche des Gepäckwagens
geschleudert wurden. Ohnehin ist allein die Befürchtung, jemand könnte
zusteigen, bereits ein Grund horchend wachzuliegen.
Freitag.17.5.91
Gegen
7.00 h hielt der Zug in Offenburg und ich lehnte mich, bereits wachgeworden und
aufgeregt, aus dem Fenster, um Lutz noch zu entdecken. Zu meiner Überraschung
waren auch die beiden Hamburger Biker dabei, ihre Räder zu beladen. Sie wollten
weiter nach Konstanz und von dort Richtung Engadin, vielleicht sei dort ja das
Wetter besser?! Lutz und seine Freundin taumelten schlaftrunken aus dem
Liegewagen, ein lauter Pfiff, er drehte sich um, winkte und wünschte eine gute
Reise. Ingo jammerte derweil schon wieder, daß ich stundenlang geschlafen hätte
und er bestenfalls die Augen zubekommen hätte.
Das Wetter machte keinen besseren Eindruck, als bei uns in Hamburg. Recht pünktlich erreichten wir gegen 8.25 h den Badischen Bahnhof in Basel. Immerhin gab es hier eine vernünftige Rampe, so daß man die Räder nicht vollbeladen eine steile Treppe, wie auf dem Hamburger Hbf, hinuntertragen mußte. Zunächst passierten wir den Deutschen und dann den Schweizer Zoll ohne echte Kontrolle, standen kurze Zeit später vor dem Bahnhofsgebäude. Es begann eine der üblichen Irrfahrten durch eine Großstadt, obwohl die Ausschilderung für Radfahrer innerorts eigentlich nicht zu beklagen war. Wir wollten jedoch Richtung Delemont/Biel und dorthin gab es zwei Wege: den über die Autobahn und den über die Landstraße. Leider war im wesentlichen der für uns nicht zu befahrende über die Autobahn beschildert, so daß wir zum ordnungsgemäßen Verlassen der Stadt eine gute Stunde benötigten, im Verlaufe derer wir 250 DM zu Franken tauschten, diverse Passanten befragten und uns auch gelegentlich verfuhren. Endlich gegen 10.00 h gelang uns der Einstieg in die Schweizer Jura. Begleitet vom auf Radtouren mit Ingo üblichen Nieselregen und nervtötendem Schwer last verkehr schoben wir auf der B 18 Richtung Süden. In sanftem Auf- und Ab ließen wir schnell 30 Kilometer hinter uns und beschlossen wegen des stärker werdenden Regens in Laufen eine kleine Eßpause einzuschieben. Als Rastplatz diente der überdachte Fahrradabstellplatz eines Zahnarztes, unter dem wir halb hockend, halb sitzend diverse belegte Brotscheiben verzehrten. In unsere trüben Gedanken platzte ein Herr im Rentenalter, der fragte, wohin wir wollten, und im weiteren Gespräch fielen die Worte, die unverhofft zum Motto unserer Reise werden sollten: “Fahren Sie doch ins Tessin, dort ist es sicher wärmer!“ Gesagt, getan, der Bahnhof des Ortes war in unmittelbarer Nähe und wir erkundigten uns nach dem Fahrpreis. 75 Franken pro Person mit Rad waren fürwahr nicht wenig. Aber zwei Telefonate gaben uns den Ruck, diese Summe zu investieren. Unter 163 erfuhren wir vom Tief über den Britischen Inseln, daß das Wetter der Nord und Zentralschweiz in den nächsten Tagen beeinflussen würde, unter 164 versanken unsere Paßträume mit fliegenden Fahnen: Furka, Grimsel, Susten Wintersperre, die Paßstraßen der Südschweiz sämtlichst frei oder aber schneebedeckt. Keine halbe Stunde später saßen wir im Zug zurück nach Basel, die kurze Fahrtzeit gemeinsam mit unseren Rädern im Gepäckabteil verbringend. Auf dem Bahnhof hatten wir noch das berühmte Stoikererlebnis, als auf eine wiederholte Frage meinerseits keine Antwort kam. Ja, wir norddeutschen Großstadthektiker sind einfach manchmal zu heißblütig für diese Bergvölker.
Das Umsteigen in Basel erforderte den Wechsel über vier Geleise und diesesmal das komplette Abnehmen des Gepäckes, zumal unsere Velos an einer Art Fleischerhaken im Gepäckabteil baumelten. Schnell füllten wir einen Vierersitzplatz des offenen SBB-Abteiles mit unseren zahlreichen Taschen und Utensilien, von denen leider auch einige im Laufe der Fahrt zu Boden klatschten. Diese Fahrt brachte zwei wichtige Bekanntschaften, zwei Einheimische, die uns mit ihren hilfreichen Tips zu einem phantastischen Urlaub verhelfen sollten. Ein junger Mann etwa unseren Alters und eine Dame, etwa Mitte vierzig, die alle Pässe und Seitentäler von ihren Motorradtouren zu kennen schien. Ob der vielen Gespräche versäumten wir fast, den Blick hinausschweifen zu lassen. Die mehr als vierstündige Fahrt führte quer durch die gesamte Schweiz über Ölten, Luzern, Altdorf, durch den St. Gotthard-Eisenbahntunnel, Bellinzona nach Lugano.
Je
weiter wir kamen, desto wärmer schien es zu werden, auch wenn zwischendurch in
Göschenen, dem Beginn der Tunnelstrecke, eine leichte Schneedecke lag. Ab Biasca
strömten lärmende Schulkinder, laut italienisch sprechend, in den Zug. Die
Atmosphäre wurde ganz und gar mediterran. Wir waren begeistert und gespannt auf
den weiteren Verlauf dieses unglaublichen Tages.
Um
17.42 h erreichten wir Lugano. Dort tauschten wir zunächst jeder weitere 100 DM
in Fränkli um und begannen unsere Fahrt am Lago di Lugano fortzusetzen. Längst
waren die langen Hosen in den Packtaschen verschwunden, mit der Hoffnung im
Hinterkopf, sie nie wieder hervorkramen zu müssen. Am See entlang im dichtesten
Feierabend-, Wochenend- und Pfingstverkehr kämpften wir uns bis zur
italienischen Grenze vor. Es ist doch immer wieder ein besonderes Erlebnis, als
Radfahrer eine Landesgrenze zu passieren, obwohl wir auch diesesmal überhaupt
nicht kontrolliert wurden.
Wie
in Trance
schossen wir
nun etwa
20 km
am Nordufer des
Sees entlang, mehrere Tunnels, der Verkehr und die enge, gewundene
Strecke machten die Straße zu einem wahren Leckerbissen, dazu die umgebende Wärme
- ich glaubte fast zu träumen. Nach einigem Suchen fanden wir in Porlezza, dem
letzten Ort im Osten des Sees einen Campingplatz, der leider ein bißchen teuer
(25 SFr.), jedoch auch extrem sauber und leer war. Die Spargelcremesuppe zum Abendbrot wäre beinahe Ingos
letzte Mahlzeit geworden, da er versehentlich in den schon entzündeten Brenner
einen Schluck Spiritus nachschüttete. Wundersamerweise blieben wir jedoch von
einer Verpuffung verschont!
Nach dem Duschen (50 R.) genossen wir noch das Glockenläuten -in der wunderschönen Abendstimmung, den warmen Seewind, das Panorama der umgebenden Berge im Streiflicht und tauchten in freudiger Erwartung des morgigen Tages gegen 21.15 h in unsere Schlafsäcke.
(56 km)
Samstag,
den 18.5.91
Um
7. 00 h klingelte der Wecker. Ein milder Wind wehte über den See und unseren
Zeltplatz. Am anderen Ende des Sees schien die Sonne schon durchbrechen zu
wollen, wir hofften auf einen schönen Tag
Ohne Frühstück packten wir unsere Sachen, ein Procedere, das wir bis
zum Ende der Reise beibehielten. Über Sinn und Unsinn dieser Maßnahme kann man
sicher streiten, die Vorteile, die uns dazu bewegen sind eigentlich folgende:
Man hat vor der ersten Pause bereits ein gehöriges Stück Strecke vom Übernachtungsplatz
zurückgelegt und - eine alte Weisheit - das direkt nach dem Aufstehen gegessene
Mahl ist immer schnell verbrannt. Nach wenigen Minuten hat man bereits wieder
Hunger, und viel essen kann man ohnehin nicht sofort nach dem Aufstehen.
uf
der B 340 erreichen wir nach gut 10 km den Corner See. Eine herrliche,
serpentinenreiche Abfahrt läßt uns das erste Mal einen Eindruck von den
bevorstehenden Alpenetappen bekommen. Nach
unserer Müsli-Frühstücksrast hatte ich dann leider das Vergnügen, einen
Plattfuß am Hinterrad zu beheben. Ein ca. 1,5 cm langes, spitzes Nagelstück
hatte sich sogar durch meine Pannenschutzeinlage aus Kunststoff hindurchgebohrt.
Ein
bißchen enttäuschend war die Straße entlang des Sees schon, denn viel Verkehr
und die ständig in einander übergehenden
Ortschaften waren wenig radfahrfreundlich. Zudem kam ein heftiger, kühler
Gegenwind auf, der uns auf fast 50 Kilometer zusetzte. Das Abbiegen auf die B 36 offenbarte die Wahrheit:
entweder Splügen oder Maloja, es gab keinen anderen Ausweg aus
dem Valle Giacomo. Auf einen kleinen Seitenzubringer beutelte
mich der Wind so stark, daß ich nahezu im 45 Grad Winkel in der Luft
lag. Für Kenner sei an dieser Stelle angemerkt, daß wir wegen des Windes
beinahe auf dem kleinen, 28 Zähne zählenden Kettenblatt fahren mußten. Letzte
Kraftanstrengungen konnten uns diese Blamage immer gerade noch ersparen...
Ingo hatte augenscheinlich ein bißchen mit dem vielen Gepäck zu kämpfen, denn noch niemals zuvor hatte er eine Radreise mit derartig gewichtigem Gepäck durchgeführt. Im letzten Jahr in Österreich hatte ja noch ich sämtliche Essenvorräte transportiert und daher gut 12 kg mehr Gewicht zu bewältigen. Diesesmal war es nicht nur die Differenz geringer, nein, Ingo hatte durch das Zelt und die Hälfte der Fressalien auch insgesamt mehr Ballast.
Zudem
gesellte sich zu diesem Problem auch noch ein körperliches: sein Rücken begann
im Bereich der Lendenwirbelsäule heftig zu schmerzen, ein Symptom, das vor
wenigen Wochen in Hamburg schon einmal auftrat und mit einer Spritze behoben
werden mußte. Folge der Behinderung war sein stets im Winkel von etwa 30-40
Grad vorgebeugter Oberkörper, der das Radfahren zwar möglich machte, aber jede
Pause zur Qual werden ließ. Bei
einer Pause in Chiavenna, dem Abzweig des Malojapasses, teilte mir Ingo dann
auch mit, daß für ihn das Bezwingen des Passes am heutigen Tage nicht mehr möglich
wäre. Wir beschlossen also den auf der Karte in Vicosoprano eingezeichneten
Campingplatz auf ca. 1000 m , ü . NN zu erreichen.
Wenige Meter nach dem Passieren der Grenze zur Schweiz beschlossen wir
eine Mittagsrast. Glücklicherweise riß währenddessen die Wolkendecke ein
wenig auf, so daß der kalte Wind erträglicher wurde. Ein direkt am Grenzübergang
aufgestelltes Schild hatte über die Befahrbarkeit aller umliegenden Pässe
Auskunft gegeben. Bis auf Albula und Bernina waren alle z.
Zt. frei.
Zu allem Überfluß schnitt ich
mir mit meinem neuen, scharfen Taschenmesser ziemlich tief in den rechten
Daumen, es dauerte eine halbe Stunde, bis das Blut gestillt war. Glücklicherweise
war das Umgreifen des Lenkers aber noch problemlos möglich. Nach gut 10
weiteren Kilometern erreichten wir Vicosoprano, jedoch der befragte Tankwart
konnte uns nur mitteilen, daß der Campingplatz zwecks Renovierung geschlossen wäre.
Wir bemühten uns sogleich um ein Privatgrundstück, erfuhren jedoch bald, daß
der geschlossene Campingplatz dennoch zu benutzen wäre, allerdings ohne
Wasseranschluß etc. Logisch! Wir
bauten das Zelt am Fuße eines sicher 3000 m messenden Riesen auf, die
Geschwindigkeit hierbei war bereits exponentiell höher,
als tags zuvor. Während wir Tee schlürfend den frühen Abend genossen,
entlud sich über dem Malojapaß ein unglaubliches Gewitter, das Ingo als alten
Alpenfuchs zu phantastischen Schilderungen über in seiner Jugend in Österreich
erlebte Gewitter veranlasste. Sicherlich mehrere hundert Male knallte es in der
Ferne, wir rechneten bereits mit Schnee auf der Paßspitze. Einem Telefonat mit
zuhause und Michael (Meike war noch nicht aus Dänemark zurück) folgte ein
nettes Erlebnis. Die Anfrage bei unseren im gelben Kleinbus reisenden Nachbarn
nach Zucker brachte uns sicher 300 Gramm des süßen Stoffes ein - wir begannen
die Freuden des wärmenden Tees voll auszukosten. (84 Km)
Pfingstsonntag, den 19.5.91
Als
gegen 6.00
h der Wecker
klingelte war
es bereits so hell im Zelt, daß ich mit einem
schönen, sonnigen Morgen rechnete. Leider entpuppte sich die Szenerie beim
Blick aus der Apside als eher düster: leichter Nebel lag über dem Tal - und
recht kalt war es zudem noch, naja, 1000 Meter ü.N.N. Wir brachen ohne zu essen
die Zelte ab. Geplant war der Frühstücksstop
in Löbbia, etwa 400 Höhenmeter
und damit ca. eine Stunde später.
Ich erreichte nach einer gleichmäßigen, wenig fordernden Steigung diesen Ort, hart mit dem eiskalten, scharfen Wind kämpfend. Auf der Suche nach einem Windschatten fand ich sehr bald in der Nähe einiger Häuser einen geeigneten Eßplatz, mit einer Sitzmöglichkeit. Bis zum Eintreffen von Ingo, vielleicht fünf Minuten später, war ich jedoch schon völlig ausgekühlt.
Ingo
sah aus, wie das Leiden Christi. Sein Rücken plagte ihn immer noch immens und
er ging stets wie ein Greis in tief gebückter Stellung. Nahezu verzweifelt presste
er sich dicht an die Schutz bietende Wand und löffelte mißmutig und fluchend
unser an sich köstliches Mahl: Müsli, Milch, Banane und Yoghurt. Was war los mit ihm, der sonst immer einen Witz auf der Zunge
hat und sich vor Begeisterung oft sprachlich überschlagen kann? Seine seit Beginn unserer Reise schlechte Laune begann sich
langsam auf mich zu projizieren. Hatte ich bisher immer noch versucht durch
Unerschütterlichkeit die wahrlich schlechten äußeren Bedingungen zu überspielen,
so fiel mir mittlerweile nicht mehr viel Trost für Ingo ein, denn selbst in
meinem hervorragenden gesundheitlichen Zustand verlangte die Tour einiges an
Durchhaltevermögen von mir ab, was mußte Ingo mit seinen ständigen Schmerzen
ertragen?
Immerhin
begann am Ende des von uns einzusehenden Straßenstückes die Sonne auf den
Asphalt zu fluten. Wir beschlossen, uns das nächste Mal auf der Paßhöhe zu
treffen. Ein mächtig steiles, 15%
gewinnendes Teilstück kurz hinter Casaccia brachte uns fast zum Stillstand.
Langsam begann der Verkehr einzusetzen, auch unsere Zeltnachbarn im gelben
Kleinbus überholten uns bald. Endlich waren auch die ersten echten Serpentinen
zu meistern, endlich, weil der Höhengewinn auf diesen Etappen immer besonders
gut zu sehen und befriedigend ist.
Gefrorene
kleine Wasserfälle an den Felswänden zur Rechten zeugten von der Kälte der
Nacht. Plötzlich unvermittelt hatte ich die Paßhöhe auch schon erreicht -
1805 m ü.N.N. sicher kein Rekord, aber immerhin die erste Leistung unserer
Reise. Auf der Paßhöhe stand ein kleiner Kiosk und etwas weiter ein Hotel. Ein
großer, kahler Felsvorsprung ermöglichte einen schönen Einblick in das zurückliegende Tal. In einer weit unter mir liegenden Kehre
entdeckte ich nach einigem Suchen auch Ingo. Es ist auf solche Entfernung immer
immens schwierig einen sich kaum fortbewegenden Radler aufzulösen, zumal die
Strecke häufig im Schatten lag und so die kräftig reflektierenden
Leuchtstreifen der Taschen nicht so auffällig leuchteten.
Wenig
später war auch er bei mir und wir genossen im Windschatten auf einer Bank
sitzend die wärmenden Strahlen der Morgensonne. Die nächste Etappe bildeten 11
fürchterlich windige Kilometer entlang des Silvaplana-Sees, einem echten
Surferparadies, auf 1800 m gelegen und sicher recht windsicher. Fast eine Stunde
quälten wir uns am Rande des Wassers entlang. Im Ort Silvaplana dann genehmigten wir uns einige heiße Teetassen und
ein kleines Mittagessen. In dieser Zeit führen etwa 150 offene Jaguarcabriolets
an uns vorbei, sicher Teilnehmer eines Oldtimertreffens. Wir amüsierten uns königlich
über die verbissenen Gesichter der offenbar gräßlich frierenden Insassen -
was für ein Quatsch bei weniger als 10 Grad offen über den Julierpaß zu
fahren! Aber - ähnliches werden die Leute auch über uns gedacht haben. Der
alsbald hinter dem Ort einsetzende Anstieg war grausam. Wir
Das Eindringen in den Schnee begann etwa bei 2000 m und die anfänglichen Schneefelder schlössen sich bald zu einer durchgehenden, maximal einen Meter hohen Decke. Es wurde so hell, daß ich zwischenzeitlich meine Sonnenbrille herauskramen mußte. Ziemlich bald aber war man schon oben, das Schild „Julierpaß 2284 m“ bedeutete Silber in unserer „Paßliste“. Nach kurzem Essen und Pinkeln warfen wir schnell alle unsere Sachen, wie Handschuhe, Helm, Regenbekleidung an und freuten uns auf die Abfahrt. Selbige war etwas enttäuschend, auch wenn bis Tiefencastel 1400 Höhenmeter auf 36 Kilometer Strecke zu verlieren waren. Ein kurzer Stop am Lai de Marmorera zum Aufwärmen, sonst ging es ohne große Unterbrechung hinab, kaum schneller als 50 km/h jedoch. Der böige Wind bremste immer wieder die aufkommende Fahrt ab. Etliche kleine Steigungen oder Flachstücke mußten schweißtreibend (voll bekleidet...) genommen werden, bis endlich irgendwann einige Kleidungstücke wegen der erreichten wärmeren Luftschichten abgeworfen werden konnten.
Durch
die Shinschlucht gleitend, weitere 300 m Höhe verlierend, erreichten wir am frühen
Abend Thusis. Die Beschilderung im Ort verriet die Befahrbarkeit des Splügen-
und Bernardinopasses. Wir wollten jedoch unsere Reise zunächst Richtung Norden
fortsetzen. In einer Apotheke
versuchte Ingo eine die Durchblutung fördernde Salbe zu ergattern. Der
Apotheker riet jedoch zu einem Arztbesuch an, den Ingo dann auch kurz darauf
zuhause in sauberem, langsamem Deutsch telefonisch erreichte. Er versprach, kurze
Zeit später zu seiner Praxis zu kommen. Dort fanden wir uns kurz vor ihm ein
und gingen dann zusammen in den Behandlungsraum. Ein mittelalter, sympathischer
Allgemeinarzt, der Ingo nach kurzer Untersuchung eine muskelrelaxierende Spritze
in die Vene gab und ihm eine Tube Voltaren-Gel überreichte. Die Rechnung von
etwa 60 Franken sollte Ingo ihm nach Rückkehr per Scheck begleichen.
Dieser nette Mann gab uns noch den Tip, am folgenden Tag eine
Nebenstrecke zu befahren, zeigte uns den Campingplatz uns rief sogar für uns
die Straßenauskunft wegen der Befahrbarkeit der Pässe an. Wieder einmal ein
Beispiel für die ausgesprochene Hilfsbereitschaft der Eidgenossen!
Der
Zeltplatz lag lieblich in einen Wald am Rande der Stadt. Auf Ingo Frage nach der
Duschtemperatur antwortete der erfreulich nette Platzwart mit „So kalt!“ und
bildete andeutungsweise mit seinem Daumen und Zeigefinger einen 2 cm messenden
Abstand. Womit er nicht unrecht hatte...
Nach dem Aufbau des Zeltes flogen schnellstens die Spaghetti in den
Kocher, eine gehaltvolle Bolognaise entstand und glücklich schmatzend fielen
wir ausgehungert über das köstliche Mahl her. Zum Nachtisch eine Tüte Süßigkeiten
(Baff!) - Radierherz was willst Du mehr? Ein Eis und ein Heimattelefonat
bildeten den Abschluß des Pfingstsonntages.
Nach kurzer Karteninspektion fielen wir ins „Bett“.
(85
km)
Montag.
20.5.91
Wieder schon um 6.00 h quälten wir uns hoch, die schönsten Stunden des Tages zum Radfahren sind doch die frühen Morgenstunden. Die Rönne spendet ein herrlich warmes Streiflicht und der Tag ist frisch. Es fahren noch nahezu keine Autos und man hat recht früh am Tag oftmals schon eine beträchtliche Strecke zurückgelegt. Auch dieser Morgen gehörte zu den schönen Erlebnissen der Reise, denn im von uns durchfahrenen Hinterrheintal gab neben der Eisenbahnstrecke und unserer Straße noch eine weitere Nebenstrecke und die in weiter Entfernung liegende Autobahnroute, so daß uns in der Tat bestenfalls 10 Wagen überholten, bis wir nach 12 Kilometern in Bonaduz in Richtung Westen ins Vorderrheintal abbogen. Zunächst stieg die Strecke auf einer sicher mehrere Kilometer langen Geraden beständig an. Glücklicherweise hatte wir kurz vor Beginn der Steigung unsere obligatorische Müslimahlzeit zu uns genommen, von Ingo durch Stücke seiner Zartbitterschokolade verfeinert. Ein Schild am Straßenrand, das auf die maximale Durchfahrtsbreite von 2,30 m hinwies, ließ uns bezüglich der Straßenführung einiges ahnen. Der Arzt hatte gestern auch von einer abenteuerlichen Strecke gesprochen und diese auch nur empfohlen, als wir ihm von unseren Paßerfahrungen berichteten, ein gewisses Leistungsvermögen voraussetzend.
Sein Tip war dann auch wirklich „Zitze“, um einmal mit Ingos Worten zu sprechen, dessen alte Begeisterungsfähigkeit nun langsam wieder aufkeimte. Mehrere in den Fels geschlagene Tunnel eine rauhe Felslandschaft und der einige hundert Meter unter uns fließende Rhein ließen die Etappe zum Erlebnis werden. Teilweise war keine echte Leitplanke zur Rechten auszumachen und entgegenkommende Autos mußten an den äußeren Rand der Straße ausweichen. Weitere beachtliche Höhenmeter wurden beim Aufstieg über Versam, Carrera und Valendas gewonnen, teilweise in steilen Serpentinen. Die Abfahrt nach llanz war dann auch eine der langen, schönen, die man recht selten so schön ausfahren kann wie hier. Das Gefühl das ganze, schwer beladene Fahrrad in die teilweise recht engen Kurven zu drücken und dabei noch den zahlreichen Schlaglöchern der Strecke auszuweichen ist ein unbeschreibliches und erfordert viel Konzentration und auch Fahrkönnen. Immer wieder begeisterte mich auf dieser Reise auch das Fahrverhalten meines neuen Rahmens, der nach dem Unfall vor 9 Monaten in Norwegen auf die erste echte Bewährungsprobe gestellt wurde.
Hinter
llanz schlug Ingo vor, einen nach Tavanasa beschilderten Radweg unter Umgehung
der .stark befahrenen Hauptstrecke B 19 zu benutzen. Gute Idee, eigentlich -
aber der Weg verjüngte sich zusehends und ging schließlich in einen holprigen
Waldwanderweg über, auf dem uns einige, einen Pfingstausflug machende. Radler
begegneten, von denen einer Ingo wegen einer kleinen Unaufmerksamkeit fast
frontal in das Rad fuhr. An einem Schießstand vorbei (die Schweizer
Wehrpflichtigen müssen ihre Schießtauglichkeit einmal pro Jahr in einer Schießprüfung
beweisen) gelangten wir über einige kleine Dörfer schließlich nach etwa 15
Kilometern Geholper nach Tavanasa. Wir überquerten hier die Hauptstraße und
fuhren in den am gegenüberliegenden Berghang klebenden Ort Danis, auf der Suche
nach einer Quelle und einem Platz zum Mittagessen.
Während dieser Mahlzeit brach dann endlich die lange erwartete Sonne
durch die letzten Wolkenreste. Was wir noch nicht wissen konnten, aber hofften:
von nun an sollte das Wetter freundlich bleiben. Sofort schnellte die Temperatur
um sicher 5 Grad in die Höhe und im Verlaufe der Mahlzeit fielen die lange Hose
und der dicke Pullover der Hitze zum Opfer.
Die
folgenden 15 Kilometer der Strecke schlängelten sich langsam steigend durch das
Tal, viel Verkehr war auch hier nicht, aber die sich von nun ab wie die Schmeißfliegen
vermehrenden Motorradfahrer waren eine echte Pest. Diese „Reisenden“ brennen
scheinbar an einem Tag „mal eben kurz“ drei bis vier der Alpenpässe weg,
das ganze jedoch stets vollgasfahrend. Für den die Ruhe und Weite der
Berglandschaft genießenden Radfahrer oder Wanderer sind diese auf ihren völlig
übermotorisierten, brüllenden, neongelben, spielzeuggleichenden Höllenhobeln
dahinrasenden Gestalten ein echter Adrenalinschubauslöser. zumal selbige meist
in Rudeln von 5 oder mehr Kreischern auftreten.
In
Disentis hatten wir bereits eine Höhe von über 1100 m.ü.NN erreicht und
trafen auf ein Schild, das wieder nur zwei Möglichkeiten eröffnete: Lukmanier-
oder Oberalppaß.
Zunächst
ging die Route über den Passo del Lucomagno bergab, was uns einen neuen
Geschwindigkeitsrekord von 71 km/h einbrachte, um dann aber in brütender
Nachmittagshitze zahlreiche Serpentinen zu präsentieren, die einen raschen Höhengewinn
ermöglichten. Bei einem kleinen Zwischenstop schien es uns nötig, ein wenig Öl
auf die mittlerweile schon leicht malträtiert quietschenden Ketten zu
schmieren.
Bei
etwa 1600 m nahe Sogn Gions trat dann wieder einmal das ein, was ich bei allen körperlichen
Höchstleistungen besonders fürchte, nämlich eine meiner geliebten Hypoglykämien.
Selbst ein 20 minütiger Stop und das Verzehren von Müsli. Schokolade und
Bonbons ließen mein Zittern nur langsam ausklingen. Ich hatte Ingo derweil
geraten schon weiter zu fahren, um einen geeigneten Zeltplatz auszumachen, denn
daß wir den Paß heute noch meistern würden können, hatten wir bereits beide
aus unserer Vorstellung gestrichen. Ohnehin schien uns die Vorstellung reizvoll,
wieder einmal unweit der Paßhöhe zu übernachten, um dann am nächsten Morgen
den Paß in jungfräulicher Schönheit meistern zu können.
Etwa zwei Kilometer weiter, ein wenig unterhalb der Straße gelegen, fiel
uns dann eine große Wiesenfläche ins Auge, zu der wir auf einem Sandweg
dann auch bald hinabrollten. Bevor
wir jedoch mit dem Aufbau des Zeltes in einer windgeschützten Ecke begannen,
wurde zunächst eine Champignoncremesuppe mit Mortadella- und Nudeleinlage
gereicht. Der von Norden her kalt durch das Tal ziehende Wind ließ uns trotz
der in der Sonne noch recht angenehmen Temperatur ahnen, wie kalt die Nacht
werden würde.
Anschließend
folgten eine Wartungseinheit für unsere Räder, eine kleine Fotoexkursion und
das Aufstellen des Zeltes. Ingo richtete seine Taschen so aus, daß sie ihm
einen Windschutz in der Apside bildeten. Sein Rücken, der schon kaum noch
schmerzte, erhielt die obligatorische Salbung von mir. Ein letzter Blick hinaus
- kaum zu glauben, daß wir hier auf einer Höhe, die bereits die Baumgrenze
darstellte und wo neben dem Zelt die ersten Schneefelder lagen, unsere Nacht
verbringen würden, 1750 Meter hoch! Wir lagen noch ein bißchen bei entzündetem
Teelicht und begutachteten den recht herben Sonnenbrand auf Inges linkem
Oberschenkel am Rand seiner Radfahrhose. Beide hatten wir heute einige Sonne
abbekommen und auch unsere Nasen leuchteten in der Nacht.
Im Verlaufe unseres Gespräches landete Ingo dann noch das Zitat des Monats. Begeistert berichtete er von einer CD, die er sich gerne nach unserer Rückkehr zulegen wolle, und tätigte dabei den folgenden Ausspruch: „Ein Dutzend Weltklassecellisten bilden ein Cellistendutzend“.
(83 km)
Dienstag.
21.5.91
Schon
gegen 2.00 h wachte ich auf und stellte fest, daß ich wohl nicht mehr
einschlafen würde können. Die Kälte setzte mir arg zu!
Ingo räkelte sich im beinahe selben Moment und meinte lapidar, daß er
es mittlerweile nicht mehr glauben könne, noch am Leben zu sein, denn auch er
war inzwischen beinahe am Boden festgefroren. Durch die Öffnungen der Reißverschlüsse pfiff ein eisiger Wind und
unser Atem gefror fast in der Luft. Ich beschloß noch als zusätzlichen Kälteschutz
den Jugendherbergsleinenschlafsack in meinen eigentlichen Schlafsack
einzulegen. Immerhin gelang es mir so noch bis nach fünf Uhr zu schlummern...
Das Aufstehen und Öffnen des Zeltes in leicht verschlafenem Zustand gehört
zu den unangenehmen Seiten des Zeltens. Es dauert gewöhnlich eine echte halbe
Stunde, bis man die Reste der Nacht völlig abgestreift hat und der Körper eine
adäquate Wärmeregulation anbieten kann.
So
auch heute - mit dem Unterschied zu sonst, daß auf beiden Seiten des Überzeltes,
innen und außen, eine durchgehende Rauhreifschicht lag und das Wasser in Ingos
Radfahrflasche komplett gefroren war. Entsprechend steif und ungelenkt machten
wir uns an das Abbauen des Zeltes. Das Wetter war spektakulär.
ein echtes, berühmtes Kaiserwetter. In der Ferne der Paßhöhe
leuchteten die das Valle Santa Maria ungebenden Gipfel in herrlichstem Weiß.
Nur zwei Autos passierten unseren Übernachtungsplatz in der Zeit bis zum
Aufbruch. Drei Überraschungen gab es auf dem Weg zum Hospizio del Lucomagno zu
erleben. Die eine war das Syndrom der Staumauer: seit längerer Zeit schon rückte
die scheinbar winzige, allenfalls fünf Meter hohe Staumauer des Lago di Santa
Maria nicht so recht näher. Im Gegenteil, je weiter wir uns näherten, desto
unglaublicher wurde ihren Ausmaße, derer wir endgültig erst beim Befahren (!)
selbiger bewußt wurden: 85 m hoch und am Fuße gar 26 m dick war das gute Stück.
Hier, auf 1908 m wird einer der drei schließlich den Rhein bildenden Flüsse
aufgestaut. Ein geheimnisvoll smaragdfarben leuchtender See mit Eisstücken
darin bildete im warmen Morgenlicht eine herrliche Kulisse.
Die
zweite Überraschung war eine große Eisfläche auf dem Asphalt, die dazu führte,
daß mein Hinterrad heftig zu rotieren begann, als ich mich an dieser steilen
Stelle in die Pedalen stemmte. Ebenso war dies ein Beweis der Kälte der Nacht,
wie Nr, 3, einige zu Eisfällen erstarrte Wassermassen, die an der linken,
felsigen Seite der Straße herunterrannen. Zusammen mit der klaren, kühlen
Luft, der absoluten Stille des Morgens und den phantastischen Panoramen abseits
der Straße entstand wieder einmal das Gefühl unmittelbarer göttlicher Nähe,
ein Gefühl allerdings, das sicher jeder Mensch anders erleben würde, aber auch
eines für das wir alle Strapazen immer wieder gerne auf uns nahmen, nehmen
werden und würden.
Nach
einigen Galerien und kleinen Tunnels erreichten wir dann schließlich
gegen 7.45 h bereits die Paßhöhe, 1920 m.ü.NN, auf der
wir unsere übliche Abfahrtsmontur aufwarfen. Der herrliche Rückenwind am
heutigen Morgen erlaubte uns kurzzeitig einmal frei von Windgeräuschen im Ohr
lediglich das leise Zischen der Mäntel auf dem Asphalt zu hören, man glaubte
fast zu fliegen...
Schon
bald passierten wir einen großen Holzstapel in dessen Windschatten wir
beschlossen eine Frühstückspause zu machen. In der Sonne sitzend genossen wir das Müslimahl. Derweil
hatte I n g o in unmittelbarer Nähe ein steil abfallendes Schneefeld
ausgemacht, auf dem er eine Runde Ski fahren wollte. Dazu benutzte er allerdings
nur seine Sohlen, was ihm beim zweiten Versuch dann auch das Gleichgewicht
kostete. In dieser locker entspannten Atmosphäre entstanden noch einige Photos,
um unsere ausgelassene Stimmung den Daheimgebliebenen vermitteln zu können.
Immerhin waren wir heute voller Vorfreude, denn die bevorstehende Abfahrt ins
Tessin bedeutet einen Verlust von fast 1700 Höhenmetern und die sicherlich
heute nachmittag am Lago Maggiore herrschenden Temperaturen reizten uns zu
baldigem Fortkommen. Die Abfahrt
war auch sicher die schönste unserer Reise, nach und nach entledigten wir uns
unserer Klamotten, jeden Halt auch zu einem Fotostop benutzend, denn die
blühende Flora und der sattblaue Himmel gaben der Landschaft einen malerischen
Anstrich. Wir flogen durch kleine,
schnuckelige, mediterran anmutende Dörfer, zehn Kilometer folgten auf die
nächsten zehn, und auf einmal waren wir bereits in Biasca, wo wir vor wenigen
Tagen noch im Zug vorbeigekommen waren. Nach kurzer Essenpause abseits der
inzwischen viel befahrenen Strecke an der Bahnlinie, fuhren wir weiter, an
Bellinzola vorbei , in mittlerweile unglaublicher Hitze und nahe einem
Sonnenstich, weiter in Richtung- Locarno. Von
Ort zu Ort tasteten wir uns auf glühendem Asphalt bis zu den östlichen
Ausläufern des Lago Maggiore. in der Hoffnung in Locarno einen einigermaßen
günstigen Campingplatz anzulaufen.
Im
wohl üblichen Mittagsstau durchquerten wir die ersten Ausläufer der recht
großen Stadt um dann nahezu unvermittelt auf einen großen Platz ein z u
biegen. Hier ereignete sich eine der
recht seltenen gefährlichen Situationen bei unseren gemeinsamen Radreisen: mehrere (Straßenbahn-) Schienenstränge kreuzten die Straße und liefen parallel zu ihr. Da wir durch die vielen optischen Eindrücke, den Verkehr und unsere recht hohe Geschwindigkeit ein bißchen reizüberflutet waren, konnte nur eine recht gewagte Bremsung einen möglichen Sturz verhindern. Wenige hundert Meter weiter, am Ufer des Sees, machten wir eine Pause, genossen das mondäne Flair des Ortes, die vielen hübschen Menschen und die sommerliche Atmosphäre. Trotz über 100 gefahrener Kilometer war es kaum 14.00 h! Der Campingplatz war auch bald gefunden, was interessierte war der Preis... Tja, 30 Fr. für uns beide in einer Nacht waren schon ein Haufen Holz, aber wir bissen in den sauren Apfel - denn beide konnten wir nicht so recht glauben, daß andere Plätze billiger seien. Platz 118 erschien uns am geeignetsten und bald waren wir dabei abzuladen. In direkter Nachbarschaft machten sich auch die beiden Tübingerinnen zu schaffen, deren Auto kurz vor uns die Anmeldung passiert hatte. Beim Aufschütteln des Zeltes fielen uns und den anderen Campern fast die Augen heraus: in dem sorgsam gefalteten Gebilde lagen noch die Fisstücke der Nacht, und es sei hier noch einmal daran erinnert, daß wir am heutigen Tage eine Temperaturschwankung von beinahe 30 Grad erlebt hatten. Wir beschlossen nach dem häuslichen Niederlassen zu baden, ein Entschluß den ich beim Hineingehen ins kurz vor dem Gefrierpunkt befindliche Wasser stante pede revidierte. Es wurde ein Abkühlen, dem eine warme Dusche folgte (50 R.!), der Geiz ließ uns eine Kabine brüderlich teilen. Anschließend fuhren wir zum Einkaufen, Eier, Obst, Yoghurt, Eis, Brot, Postkarten, Getränke (für Ingo Bier!?, Tell, Lager) standen auf dem Zettel.
Zum
Abendbrot gab es als Vorspeise Kräutercremesuppe mit Spezialeinlage à la Cramer
und als Hauptgang Eieromelette d ´ Landschoof . ein köstliches Mahl in lauer Abendluft. Reim Gang- zum
Telefon gegen 22.00 h entdeckte ich ein Thermometer, das immerhin noch 2° Grad
meldete. In unserer Umgebung waren mittlerweile weitere Zelte hochgewachsen.
Spätheimkehrer fragten interessiert nach unserer Route und Herkunft, bald waren
wir in freundliche Gespräche mit Tübingern, Gießenern und Oberallgäuern
verwickelt. Mit dem schwindenden
Tageslicht gingen wir für unsere Verhältnisse ziemlich spät gegen 22.30 h
erst ins Zelt, nicht ohne vorher noch einen Blick auf die 1 : 200000 messende
Karte der Tübingerinnen geworfen zu haben,
leider hatten die von Ingo vor der Reise für die gesamte Schweiz
besorgten Generalkarten die unangenehme Eigenschaft, in den benötigten Ecken
und Winkeln des Landes nicht auszureichen, während meine Kümmerly &
Frey-Karte 1 : 3000000 nur
für Autofahrer gemacht war, und
daher einige kleine Gegensteigungen von etlicher Höhe des öfteren nicht
erwähnte. Auf dem Schlafsack
liegend verbrachten wir noch eine Zeit plaudernd, die Wärme ließ uns noch
nicht schlafen - welch ein Unterschied zu letzter Nacht!
(102
km)
Mittwoch.
22.5.91
So
habe ich tatsächlich die ganze Nacht mit offenem Schlafsack, halb drinnen, halb
draußen liegend verbracht. Was für ein Gefühl war es an diesem Morgen erneut
bei strahlendem Sonnenschein sind behaglicher Wärme zu erwachen! Leider hatten
wir eine halbe Stunde „verschlafen“, da der Wecker aus unerklärlichen
Gründen stehen geblieben war.
Dennoch
hatten wir längst vor dem Auferstehen aller anderen um uns herum die Sachen
gepackt und uns gegen 8.00 h zu den Waschräumen am Eingang des Platzes begeben.
Heute stand die Erkundung des Cento Valli auf dem Programm, ein Tip, den uns
auch die anfangs erwähnte Dame im Zug nach Lugano gegeben hatte. Dazu war es
zunächst erforderlich, auf der Hauptstraße Locarno zu verlassen. Nach und nach
zweigten jedoch mehrere kleinere und größere Strecken von der unseren ab, bis
wir uns schließlich auf der mit Italia und Cento Valli beschilderten Route
befanden.
Erneut
ließen uns die Breite auf 2,30 m beschränkende Beschilderungen Gutes hoffen.
Mehrere kleinere Örtchen säumten unseren Weg, stets war es möglich recht
fremdartige Eindrücke entlang der Strecke zu sammeln. Kleine, wild bewachsene
Gärtchen gehörten zu jedem Haus, überall war geschäftiges Treiben zu
beobachten. Auch wir tätigten einen kleinen Einkauf (Brötchen, Croissants) und
ließen uns danach auf dem Marktplatz des Nestes nieder, am Fuße des üblichen
typischen Glockenturmes. Nutella und Margarine waren durch die Morgenhitze
bereits in einen eher flüssigen Zustand übergegangen, dennoch war es eine
willkommene Stärkung. Schnell noch ein paar Fotos gemacht, und schon saßen wir
wieder neugierig auf den Rädern. Weitere 5 Kilometer waren schnell
zurückgelegt, obwohl es stets bergauf ging, teilweise bis zu 18% steil wand
sich das glühende Asphaltband durch verschlafene südschweizer Bergdörfer. An
einer engen Brücke wollte ich warten, bis Ingo mich passiert hatte, um dann ein
Foto von ihm auf derselben zu machen. Beim Griff in die Lenkertasche stellte ich
jedoch fest, daß meine Kamera sich nicht darin befand. Schnell hielt ich zu
Ingos Überraschung an, hängte
meine Taschen ab und verabschiedete mich in die Richtung, aus der wir gekommen
waren. In Höllentempo ging es die ganze steile Etappe wieder hinab, der
gesuchte Platz wollte aber nicht auftauchen. Ich befürchtete schon,
vorbeigefahren zu sein, bis schließlich nach einer Ewigkeit die Bank, auf der
wir gesessen hatte, zu erblicken war. Dort lag dann auch meine Kamera friedlich
in der Sonne. Wieder zurückzufahren und schweißüberströmt Ingo mit erhobenem
Daumen anzugrinsen war eine Rache von 15 Minuten.
Unbeschwert
konnten wir die Fahrt fortsetzen. Schwer zu sagen , was eigentlich schneller
anwuchs: die Temperatur oder die Masse der wunderschönen Anblicke. Das enge
Tal, in dem ständig eine Eisenbahnlinie in gewagter Architektur kreuzte, der
geheimnisvoll grün schimmernde See, der dunkelblaue Himmel, die schneebedeckten
Riesen am Horizont und die wild wuchernde Vegetation machten das Fahren zu einem
herrlichen Genuß.
Die
Grenzüberschreitung war gewohnt problemlos, leider konnte die italienische
Seite des Tales. Val Vigezzo, nicht im entferntesten mit der Schweizer Seite
konkurrieren. Einzig die Abfahrt kurz vor Domodossola ließ ein wenig Freude
aufkommen. Allerdings verflog diese bald wieder, als wir uns unvermittelt vor
dem Beginn einer Autostraße wiederfanden, die eindeutig von uns nicht befahren
werden sollte. Ingo wies jedoch auf das geringe Verkehrsaufkommen hin und wir
riskierten es dennoch.
Wir
wurden fast gegrillt und waren schließlich froh in der Ferne die schwarze
Öffnung eines Tunnels aufleuchten zu sehen. Über 2200 m war dieses Monstrum
lang, schwach beleuchtet und gegenwindig. Nach endloser Zeit erreichten wir die
Gegenseite. Ein irres Geräusch
entstand jedes mal wenn ein Auto in den Tunnel einfuhr. Der Lärm des
herannahenden Fahrzeuges steigerte sich immer mehr und ließ einem beinahe kalte
Schauer den Rücken herunterlaufen, bis die Spannung (oder besser: Hoffnung) des
Gesehenwerdens sich endgültig löste.
Jetzt
begann der Simplonpaß, aber bald schon entschlossen wir uns erst einmal eine
Erfrischungspause zu machen. Gar nicht so einfach, einen Brunnen o.a. zu finden.
Schließlich aßen wir im Schatten einer Hütte ein Riesenmüsli und kühlten
unsere fast platzenden Köpfe ein bißchen ab. Nach gut zehn weiteren
Kilometern, in 700 m Höhe in Iselle, erließ der Altestenrat eine über
zweistündige Mittagspause im Schatten einiger Bäumchen. Wir waren wirklich
nahe der Bewußtlosigkeit
und die pochenden Kopfschmerzen mahnten wirklich zu einer Pause. Zufällig
trafen wir dabei den einzigen weiteren Radfahrer bisher, der ebenfalls im
Schatten döste und auf drei weitere Freunde wartete, die in der nächsten Zeit
eigentlich über den Paß kommen sollten. Die Jungs waren in Stuttgart gestartet
und über den französischen Teil der Schweiz bis in das Rhonetal gefahren,
hatten letzte Nacht in Brig gezeltet und wollten nun zum Lago Maggiore. Die
Isomatten wurden ausgerollt, es war gegen 14.45 h. Die Rast wurde nur von einem
Herren unterbrochen, der nach der Gondoschlucht fragte und unseren vergeblichen
Versuchen an der Autoverladestation für den Simplontunnel ein Eis zu ergattern.
Gegen
17.00 h brachen wir schließlich auf und schafften es immerhin bis zu einer etwa
drei Kilometer entfernten Stelle, an der das Schmelzwasser aus den Felsen
sprudelte, um erneut Gesicht und
Arme zu befeuchten. Nach erneuter Grenzpassage machten wir einen Stop in Gondo,
dem Grenzort, wo mehrere Eis und Getränkedosen dankbare Abnehmer fanden. Die
letzte heutige Etappe war maximal zehn Kilometer lang. Hatte es aber ziemlich in
sich. Der ganze Simplonpaß ist im Prinzip LKW-gerecht ausgebaut. D.h., daß
extrem steile Stücke nicht zu finden sind, dafür aber sicher 50% des Passes
aus Galerien und Tunnels mit 5-9% tiger Steigung bestehen. Der scharfe Gegenwind
machte diese scheinbar endlosen, langen, einsehbaren Streckenabschnitte zur
Qual, da es immer möglich war, bereits das Stück Straße einzusehen, auf dem
man die nächsten 10 Minuten verbringen würde.
Auch die auf der Karte als Natursehenswürdigkeit ausgewiesene
Gondoschlucht konnte für die Plackerei auf der Straße nicht entschädigen.
Ingo
hatte ich fast eine Stunde lang nicht gesehen, als ich endlich nach Passieren
des letzten Tunnels den Ort Gstein-Gabi, unseren Treffpunkt und angeblichen
Campingplatz erreichte. Einige
herumstehende Stoiker teilten mir mit, daß der Campingplatz aus der Wiese
unterhalb ihrer Häuser bestehe, den wir jedoch gerne benutzen könnten.
Ich
begann derweil das Zelt aufzustellen und Ingo schleppte sich lange Zeit später
heran. Nach dem zugegebenermaßen gemeinsam besser funktionierenden Zeltaufbau,
kochten bald Tee und Nudeln auf dem Trangia 2, bereitet aus Schweizer Nudeln,
mit utopisch teuren passierten Tomaten, aber viel, viel Knoblauch. Über uns war
bereits die nächste, etwa 2 km lange Steigung für morgen früh auszumachen.
Feuerrot ging derweil die Sonne, um uns herum an den Bergspitzen reflektierend, unter. Ingo war wirklich ziemlich ausgelaugt, noch deutlich stärker, als ich und sein unlängst operiertes Knie rechts hatte im Verlauf des Tages begonnen zu schmerzen. Etwas lädiert erwarteten wir also unsere letzte wild gecampte Nacht.
(86
km)
Donnerstag,
23.5.91
Um
sechs Uhr klingelte der inzwischen mit Ingos Ersatzbatterie aus seiner
Taschenlampe versehene Wecker. Es war noch immer wolkenlos und längst nicht so
kalt, wie vorgestern morgen am Lukmanierpaß. Schon bald nach unserem Aufbruch
ließ ich Ingo hinter mir und begann den Kampf mit der am gestrigen Abend
gesichteten Steigung.
Um
uns herum wimmelte es nur so von Bauarbeitern, der ganze Paß schien ja kurz vor
Saisonbeginn noch einmal auf Vordermann gebracht zu werden. So, wie der gestrige
Tag geendet hatte, so setzte sich die Streckenführung fort: nicht enden
wollende Gallerien schmiegte sich an die Felswände, stetig 7-9% steigend, ein
polarer Wind pfiff durch die Röhren der Tunnel und Galerien und nahm einem
wirklich jede Lust am Radfahren. Verabredet hatten wir uns zum Frühstücken auf
Höhe von Simplon-Dorf, 1476 m.ü.NN, doch dorthin zu gelangen war ein Kraftakt
erster Güte. Das rettende Ziel bereits im Blick begann eine etwa 1200 m lange
Überbrückung des Tales, auf der der Wind zornig, infernalisch alles tat, um
uns am Erreichen des Ziels zu hindern. Zeitweilig sah ich trotz recht, dezenter
Steigung eine 4. (!) auf meinem Kilometerzähler leuchten, stemmte mich mit
aller Gewalt in die Pedalen und kam dennoch kaum voran. Es kam mir wie eine
Stunde vor, bis ich schließlich den Punkt erreicht hatte, wo ein Zubringer von
der Paßstraße nach Simplon abzweigte und ich mich erschöpft an einen Felsen
lehnte. Wenig später sah ich Ingo am Beginn
der Brücke auftauchen und es vergingen sicher 10, 12 Minuten, bis er, fluchend,
am Ende seiner Kräfte, meinen Standpunkt erreicht hatte.
Wenige
hundert Meter weiter begaben wir uns nahe einer weiteren Baustelle in den
Windschatten eines riesigen Felsblockes und versuchten mit klammen Fingern ein
Müsli zu bereiten, woraus allerdings nichts wurde, denn die gestrige Hitze
hatte aus unserer letzen Milchtüte Sahne werden lassen...
Zum
Glück hatten wir aber noch Bananen, Brot und Nutella, so daß wir auf die
nötige Stärkung nicht verzichten mußten.
Der Abgang von unsrem Pauschen wurde dann recht lustig: mehrmals mußte
ich versuchen den mittlerweile fast zum Orkan angeschwollenen Wind zu
überlisten um bergauf fahrend in die Fußschlaufen der Pedale zu schlüpfend,
sehr zu Ingos Vergnügen, der lästernd aber auch ohne Pedalschlaufen ähnliche
Probleme hatte.
Glücklicherweise
änderte sich beim weiteren Höhengewinn die Himmelsrichtung der Straße ein
wenig, so daß der Wind auf den letzten Kilometern nicht mehr so dominierend
war. Es blieb wieder etwas mehr Zeit zum häufigeren Halten und Schauen, denn
nach Passage der Schneegrenze, die hier schon so um die 17/1800 m lag boten sich
immer phantastische alpine Ausblicke, z.B. zurück ins Tal, in dem eine Kaserne
der Schweizer Armee lag, offensichtlich diente ein altes Kloster als Unterkunft.
Fletschhorn, Lagginhorn und Weissmies grüßten herüber, jeweils gut 4000 m
hoch, und massiv schneebedeckt. Nach Ankunft auf der Spitze (2005 m) verbrachte
ich eine recht lange Zeit auf dem Treppeneingang des Simplonhospizes sitzend und
sog die Eindrücke, dieses herrlichen Morgens auf. Die Sonne wärmte mich
herrlich auf und die Ruhe der Natur war wieder einmal unbeschreiblich. Nach
einigen Fotos, einer kleinen Rad-Montage kam dann auch 1ngo, beide Hände über
dem Kopf, jubelnd, heran. Er war sicher auch froh, die letzte echte Hürde des
Urlaubes gemeistert zu haben.
Ein
bißchen weiter stand der Stein, mit Höhenangabe und „Col de Simplon“
darauf. Wir vermummten uns wieder und ließen dann recht zügig 20 Kilometer
Strecke an uns vorbeigleiten, meistens über 50 km/h fahrend, bisweilen auch 70,
aber mehr war nicht ‚drin, denn das Gefälle war ähnlich nivelliert, wie die
Steigung, so daß Ingos legendäre 88 Stundenkilometer vom Großglockner im
letzten ,1ahr wohl den Mythos der Unvergänglichkeit behalten werden.
Zu
berichten gibt es von dieser halben Stunde die Begegnung
mit drei Radfahrern, einige Spitzkehren und zahlreiche Galerien,
abgesehen davon, daß es von Minute zu Minute wärmer wurde, und wir
noch vor dem Ortsschild Brig nur noch in kurzer Hose und T-Shirt unterwegs
waren. Nach einem Einkauf in Brigs Migros Markt statteten wir zunächst dem
Bahnhof einen Besuch ab, um uns über Fahrpreise per Zug nach Kandersteg und
Spiez, sowie nach Basel zu erkundigen. Nach einigem Überlegen entschieden wir
uns für eine Fahrt nach Kandersteg durch den Lötschbergtunnel. Wir befanden
uns jetzt im Tal der Rhone und es gab keine Möglichkeit für uns Basel radelnd
in zwei Tagen zu erreichen. Von Kandersteg aus konnten wir aber. So hofften wir,
leicht bergab rollend den Thuner See und vielleicht noch Grindelwald besuchen,
von wo aus morgen die Jungfraujochbezwingung per Seilbahn geplant war. Aber oft
kommt es anders, als man denkt. Für 20 Fr. luden wir uns und unsere Räder
gegen 12.00 h in den Zug. in dem es tropisch warm war, sicher hatte er irgendwo
in der Sonne auf dem Gleis
Außerdem
war die Fahrt durch das Tal des Kander von heftigem Gegenwind und gräßlichem
Verkehr gezeichnet, daß wir froh waren, über Aeschi eine Nebenstrecke fahren zu können. Nach zwei kleineren
Pausen erreichten wir am Nachmittag Interlaken. Hier hätten wir eigentlich nach
rechts Richtung Grindelwald abbiegen müssen, aber die diesige Luft hatte uns
den „Jungfrauplan“ ad acta legen lassen, denn sicherlich über 50 DM zu
zahlen, und dann nichts zu sehen wäre eine herbe Enttäuschung geworden.
Vermutlich gibt es ohnehin nur ganz wenige Tage im Jahr, an denen sich ein
solcher Aufstieg lohnen würde.
Stattdessen
zogen wir durch das mondäne Interlaken, fragten erneut am Bahnhof nach
Fahrpreisen und steuerten dann an der Nordseite des Sees in Richtung der fünf
avisierten Campingplätze. Wir
entschieden uns für den letzten, nachdem sich einige andere als unschön, weil
nur Dauergäste mit stationären Riesenzelten, erwiesen hatte.
Hier
wurde die Platzgebühr nach Lage der Parzelle bemessen und wir hatten Glück - nicht nur daß wir ohnehin einen billigen Platz ausgewählt hatten, es gab auch
noch eine Ermäßigung von 1 Fr. da wir keinen Stellplatz für ein Auto benötigten.
Sehr lobenswerte Sache, denn wir hatten uns des öfteren gefragt, warum ein
Stellplatz mit Auto genauso teuer sein soll, wie einer ohne.
Nach dem Aufbauen und der obligaten Spaghettimah1zeit (pardon: dieses mal
waren es Nudeln...) entschieden wir
uns zu einem kleinen Stadtbummel im weltbekannten Kurort Interlaken (inter lacus
- zwischen den Seen Brien/Thun), in dessen Verlauf wir einige original Schweizer
Armeemesser mit Namensgravur (Meike, Julia, Christine) erstanden und uns am
Grand Hotel erfreuten. Wieder zum Zelt zurückgekehrt fingen wir mit unsren
Kameras noch die Abendstimmung am See ein, ein wenig melancholisch war es schon,
immerhin unser letzter Zeltabend des Urlaubes.
Ingo
erbat bei unserem Gegenüber, Familienvater mit Geländewagen und etwa 15m
langem Wohnwagengeschoß noch ein bißchen Zucker und so ließen wir teetrinkend
den Abend ausklingen.
(82
km)
Freitag.
24.5.91
Gegen
7.00 Uhr „erst“ standen wir heute auf, denn es wartete ein lockeres
Ausfahren auf uns. Nach dem gewissenhaften Verstauen des gesamten Zeltes in den
Taschen und nicht auf dem Gepäckträger, verließen wir die letzten Ausläufer
Interlakens und vollendeten unsere Umrundung des Thuner Sees am Nordufer, Die
Straße gefiel durch die gelungene Streckenführung, zur Rechten einige recht
hohe Steinmassive, links unter uns blitzte immer wieder der See durch die
Baumreihen. Inzwischen war auch die Sonne wieder herausgebrochen und so konnten
wir nach Passieren
der Beatushöhlen auch bald Ausschau nach einem Frühstücksplätzchen halten.
Selbiges
war in der Beatenbucht auch bald gefunden und ragte durch seine Schönheit
hervor: um uns herum standen Palmen, das glasklare Wasser plätscherte an den
Kai und im Hintergrund prangte ein gewaltiger, einsam stehender Berg mit einer
Wolke an seinem Gipfel - ein schöner Ort für einige Photos und eines unserer
wohlmundenden Müslis.
Kurze
Zeit später schon, nach etwa 25 Kilometern, erreichten wir Thun. Nach dem
Umtausch von weiteren 150.- DM in Franken, fragten wir am Bahnhof nach
Zugpreisen. Siehe da, die Verbindung von Bern nach Basel war tatsächlich um 9
Franken billiger, als die von hier dorthin, so daß wir beschlossen nach einem
längeren Aufenthalt in der Thuner Sonne noch die fehlenden etwa 30 Km nach Bern
zurückzulegen, eine Distanz, die auch Ingos immer noch schmerzendem Knie gerade
möglich sein würde. Ohne dieses Handicap.
da waren wir uns beide einig, wären wir die gesamte Distanz von
etwa 130 Kilometern mit dem Rad angegangen, um das gesparte Gold zügig in die
phantastischen Schweizer Messer zu investieren.
Stattdessen saßen wir kurze Zeit später in der Sonne am Thuner See und
lasen, aßen, genossen und schnackten. Nach
dieser über einstündigen Pause machten wir uns auf den zunächst sehr gut
ausgeschilderten Weg zur Hauptstadt der Schweiz. Ein weißes Fahrrad auf rotem
Grund wies uns die Richtung. Später hatten wir sogar ständig die Wahl zwischen
der rechten oder der linken Uferseite der Aare, entlang der wir nun nahezu die
gesamte Zeit fuhren. Eine schöne Route, die zeitweilig auf einem Wanderweg
verlief, auf dem wir entgültig wußten, warum wir zuhause die breiten Reifen
für diese Reise aufgezogen hatten. Leider hatte Ingo noch das zweifelhafte
Vergnügen, einen Plattfuß an seinem Vorderrad beheben zu dürfen, den ich mit
hämischem Grinsen kommentierte, denn es war sein erster auf all seinen
gemeinsamen Touren mit mir.
Das
helle Grün des Flusses blieb nun immer häufiger außer Sichtweite, und wir
waren im direkten Anfing auf Bern. Das erste Mal in diesen Urlaubs tagen hatten
wir einmal nicht gigantische, schneebedeckte Massive um uns herum, sondern
sanfte, mittelgebirgige Züge, die nach Norden langsam ausliefen. Nur im
entfernten Süden konnten wir die Reste der Zentralapenketten noch erkennen.
Die Landschaft war hier vielmehr durch intensive landwirtschaftliche Nutzung geprägt. Die Zahl der Radwege durch die Felder schien unerschöpflich und die Beschilderung war zumeist vorbildlich. Mit Ingos letzten Zuckungen seines verletzen Knies drangen wir nach Bern ein, schwammen im Großstadtverkehr mit und erreichten nach wenigen Minuten den Hauptbahnhof. Dort erwies es sich als ziemlich kompliziert, den Fahrkartenschalter im Untergeschoß zu erreichen, denn wir mußten dazu die Räder nacheinander in einen Fahrstuhl verfrachten, dessen zügiger Türschluß mich fast eine Vorderrad kostete. Endlich hatten wir unsere Fahrkarten ergattert, mit der Information, daß wir in Ölten umsteigen müßten. Ein Zug dorthin stand bereits auf dem Gleis, so daß wir die beladenen Räder in gewohnter Manier nur in den Gepäckwagen zu werfen brauchten (Rampenhöhe 120 cm!) und beruhigt Platz nehmen konnten. Die Fahrt bei strahlendem Sonnenschein über Burgdorf und Langenthai dauerte eine gute Stunde. In Ölten suchten wir schnell den Regionalzug nach Basel, der zu unserer Überraschung kein Gepäckabteil hatte, aber in einem gesondert gekennzeichneten Waggon bestand die Möglichkeit mehrere Fahrräder einzuladen.
Eigentlich
sollten diese dann an einem Fleischerhaken von der Decke baumeln, aber
angesichts des vielen Gepäcks, der kurzen Fahrzeit und in mangelnder
Radlerkonkurrenz verzichteten wir darauf. Auf
von der Hinfahrt bekannten Pfaden erreichten wir Basel. wo wir uns, ohne Zeit zu
verlieren, es war gegen 17.00 h inzwischen, auf den Weg zum Badischen Bahnhof
machten. Die Hoffnung, unterwegs noch einen offenen Supermarkt zu passieren,
erwies sich als trügerisch, so daß wir noch einmal 2 km zurückfahren mußten,
um ein wenig Reiseproviant, zu ergattern. Vor
dem Bahnhof füllten wir dann unsere letzten Spiritustropfen in den Kocher und
zauberten eine letzte Spaghetti-Abschiedsmahlzeit auf der Wiese vor dem
Bahnhofseingang. Die flach stehende, lange Schatten werfende und warmes
Abendlicht spendende Sonne verstärkte die Melancholie unsres Abschiedes, ein
letzter Tee und wir passierten den Schweizer Zoll.
Ein Telefonat mit Meike und Toddy, die zur selben Zeit in der Küche im
Ingos Wohnung eine Spaghettimahlzeit bereitet hatten,
klärte unsere morgige Ankunftszeit. Meike und Christine hatten vor in
Ingos und Torstens Wohnung zu übernachten, um uns morgens um 6.42 h am Altonaer
Bahnhof in Empfang zu nehmen, Nach dem Verladen der tapferen Räder und der
Suche nach einem leeren Abteil machte sich der D 472 um 19.39 h auf den Weg nach
Norden. Unsere traurigen Blicke erlebten das langsame Verschwinden des glutroten
Balles am Horizont, den Halt in Freiburg und Offenburg, bis schließlich die
Müdigkeit uns übermannte und uns fast. bis zuhause tief
schlafen ließ.
Lediglich ein Halt in Hannover bei dem etwa 50 Fahrräder in den
Gepäckwagen gestapelt wurden, und unsere Räder fast zerquetschten, ließ mich
aufstehen und ein Dokumentarphoto dieser Aktion machen .
In
Hamburg-Harburg standen wir auf, putzen die Zähne und warteten auf unser
Einlaufen in Altona, das sich naturgemäß noch eine knappe Dreiviertelstunde
hinzog. In Altona wurden wir schließlich von Meike und Christine stürmisch
begrüßt, Toddy war in der vorigen Nacht erst um 2.00 h im Bett und daher
unpäßlich...
Worin hat sich diese Radreise eigentlich von anderen unterschieden? Ist es nicht eigentlich wie immer gewesen? Nein, diese Reise war wieder eine ganz. besondere. Noch keinmal haben wir, darüber sind wir uns einig, die Nähe zur Natur so ausgeprägt, wie in diesem Jahr empfunden. Das liegt mit Sicherheit daran, daß wir auch noch niemals so konsequent gezeltet haben, wie in der Schweiz. Eigentlich war das in dieser Form nicht geplant, aber die Faszination völliger Autarkie, das gilt natürlich auch für die Verpflegung, hat uns voll in ihren Bann gezogen. Kein Gramm des über dreißig Kilogramm wiegenden Gepäckes habe ich bereut. Der Unterschied zu anderen Reisen lag sicher auch in der Routenplanung. War auf meinen letzten Reisen stets ein Paß eine Krönung, eine Ausnahme, so war in diesem Jahr aufgrund unseres guten Trainingszustandes, der hervorragenden Räder und der allgemein gewachsenen Tourenerfahrung das Bezwingen mehrerer Pässe großer und kleiner Art beinahe eine Selbstverständlichkeit. Überraschend wieder einmal war, wie wichtig Dinge werden können, die im Alltag zur Selbstverständlichkeit verkommen sind, ein Brunnen, ein schöner Rastplatz, ein warmer Schlafplatz und etwas zum Essen. Erstaunlich ist, wie man trotz elender körperlicher Anstrengung, Kälte, Hitze, Strapazen sich über Kleinigkeiten am Wegesrand wie ein Murmeltier, einen Wasserfall, ein Panorama freuen kann!
Radreisen | Länderinfos | Radsport |